Haben wir schon 1984? Nein, viel besser: wir haben 2019!

George Orwell beschrieb schon vor vielen, vielen Jahr­zehnten, wie Propa­ganda funk­tio­niert, wie man sie anwenden muss, damit die­je­nigen, die man wie Knet­masse formt, sogar lieben, was man mit ihnen macht. Man müsse „Lügen wahr machen“ und dem „Win­digen den Anschein des Soliden ver­leihen“. In seiner genialen Dys­topie „1984“, ver­fasst 1946 bis 1948, schreibt er: „Schließlich würde die Partei ver­künden, zwei plus zwei ergeben fünf, und du müsstest es glauben. Ihre Phi­lo­sophie ver­neinte nicht nur die Beweis­kraft der Erfahrung, sondern auch die Existenz einer objek­tiven Rea­lität.“
1984
„Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ist. Wenn das gewährt ist, folgt alles weitere“, sagt die Haupt­figur Winston Smith in Orwells dys­to­pi­schem Roman 1984. „Manchmal gilt zwei plus zwei gleich fünf. Manchmal drei. Manchmal alles auf einmal“, sagt später O’Brien, der Che­fin­qui­sitor von Ingsoc, zu Winston.
Inzwi­schen sind wir im Jahr 2019 bereits so weit, dass das Prä­sidium des Deut­schen Bun­des­tages sagt, 100 sei mehr als die Hälfte von 709. Und über 80, eher über 90 Prozent der Bevöl­kerung echauf­fieren sich darüber kein bisschen mehr, viele ver­suchen es sogar zu begründen. Die heu­tigen O’Briens gleichen dem in 1984 ums Haar und man gewinnt zunehmend den Ein­druck, sie werden ihm immer noch ähn­licher. Direkter Zwang muss nur noch bei ganz wenigen ange­wendet werden, die breite Masse liebt ihre O’Briens längst so sehr, dass sie ihnen blind ver­traut und aus der Hand frisst, ja sogar jeden angreift, der es wagt, die O’Briens auch nur zu kritisieren.
Womöglich geht es inzwi­schen sogar ganz ohne Zimmer 101. Oder aber dieser wird irgendwann noch ein­ge­führt für die ganz hart­nä­ckigen, deren Geist trotz allem doch noch Wider­stand leistet, wer weiß? Auch das könnte noch kommen, niemand kann das wirklich einschätzen.
Ratten
Als Kind und Teenager habe ich über­haupt nicht gelesen, keine Bücher, nicht einmal Asterix-Hefte. Ich bin quasi – heid­eg­ge­risch for­mu­liert – nicht im Haus der Sprache auf­ge­wachsen, zumindest nicht der geschrie­benen solchen, hatte eher einen Zugang zu Zahlen, die mir von sich aus zuflogen. Das erste Buch, das ich – wie könnte es anders sein? – im Jahr 1984, also vor 35 Jahren mit knapp 20 von mir aus jen­seits der schu­li­schen Pflicht­lektüre, die ich aber meist auch nur bruch­stückhaft überflog, wirklich frei­willig, von mir aus und auch voll­ständig zu Ende gelesen habe, war: 1984 von George Orwell. Pro­phe­tisch?
„Hetze“ – „Neu­sprech“ – „Gutdenk“ – „Wahr­heits­mi­nis­terium“

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Die DDR wertete Orwells drei­zehntes und letztes Buch übrigens als staats­feind­liche „Hetz­schrift“ und ver­hängte hohe Zucht­haus­strafen nicht nur für den Verleih, sondern sogar für die Lektüre! Im Oktober 1978 ver­ur­teilte das Bezirks­ge­richt von Karl-Marx-Stadt einen 27 Jahre alten Diplom-Theo­logen zu einer Frei­heits­strafe von zwei Jahren und vier Monaten. Sein Ver­brechen: Er hatte 1984 gelesen und an Bekannte ver­liehen. In der Urteils­be­gründung des Gerichts hieß es: „Das Buch ‚1984‘ soll dazu dienen, den Sozia­lismus zu ver­teufeln und zu ver­un­glimpfen. Dabei wird ins­be­sondere die Sowjet­union, sowie die füh­rende Rolle der mar­xis­tisch-leni­nis­ti­schen Partei dif­fa­miert.“ In den letzten Jahren, so das Gericht, sei „1984“„dieses Machwerk“ – ins­be­sondere im ideo­lo­gi­schen Kampf gegen die DDR ein­ge­setzt worden.
George Orwell war bereits schwer krank, als er sein letztes Buch ver­fasste, das übrigens nicht nur auf den Sozia­lismus, sondern auf jede Form des Tota­li­ta­rismus bezogen ist. Es erschien im Juni 1949, sein Autor starb ein halbes Jahr später, im Januar 1950. Sein gran­dioser düs­terer Roman aber wird bleiben. „Hetze“, „Neu­sprech“, „Gutdenk“, „Minis­terium für Wahrheit“ … kommt Ihnen das nicht irgendwie bekannt vor? Angela Merkel äußerte vor wenigen Tagen erst, dass sie und die ihren dafür sorgen werden, dass gar keine fal­schen Gedanken mehr auf­kommen werden. Ja, irgendwie bekommt man von Jahr zu Jahr mehr den Ein­druck, es gibt kaum ein aktu­el­leres Buch als diesen inzwi­schen über 70 Jahre alten Roman aus den 1940ern.
P.S.: Ach und noch etwas, lesen Sie doch mal einfach nur so zum Spaß Orwells 1984 und dann direkt anschließend zum Bei­spiel das hier. Einfach nur so zum Spaß. Nicht weil da irgendein Zusam­menhang bestünde. Nein, nein, auf keinen Fall!
 

Quelle: Jürgen Fritz — www.juergenfritz.com — Bilder: YouTube-Screen­shots aus 1984