Migranten steigen von Schlepperbooten auf NGO-Schiffe um, die sie nach Europa chauffieren. Foto: Irish Defence Forces / Wikimedia (CC BY 2.0) - https://commons.wikimedia.org/wiki/File:LE_Eithne_Operation_Triton.jpg?uselang=de

Am Bei­spiel geschei­terter Flücht­lingsdeal mit der Türkei: Wie unver­schämt die Medien die Leser betrügen

Wie mani­pu­lativ die die deut­schen „Qua­li­täts­medien“ sind, kann man derzeit besonders gut an dem Thema „Flücht­lingsdeal mit der Türkei“ stu­dieren. Schon seit fast zwei Monaten werden dem deut­schen Publikum die aktu­ellen Ent­wick­lungen kon­se­quent ver­schwiegen. Welche sind das?
2016 haben Brüssel und Ankara den Flücht­lingsdeal geschlossen. Darin hat sich die Türkei ver­pflichtet, ihre Grenzen zur EU für Flücht­linge zu schließen und die­je­nigen, die es trotzdem bis nach Grie­chenland schaffen, aber nicht asyl­be­rechtigt sind, wieder zurück­zu­nehmen. Die Türkei hat ihren Teil erfüllt, der Flücht­lings­strom ist weit­gehend versiegt.
Im Gegenzug hat die EU der Türkei Mil­li­arden ver­sprochen, um die Kosten für die Unter­bringung der Flücht­linge zu decken und sie hat der Türkei Rei­se­er­leich­te­rungen, also die Abschaffung der Visa­pflicht für Türken, versprochen.
Die EU hat aber der Visa­pflicht nie auf­ge­hoben und noch nicht einmal die volle ver­spro­chene Summe bezahlt. Die EU ist auf ganzer Linie vertragsbrüchig.
Hinzu kommt, dass die EU sich mit der Türkei nun auch noch um Gas­för­de­rungen vor Zypern streitet und deshalb sogar Sank­tionen gegen die Türkei dis­ku­tiert. Da die EU in Sachen Flücht­linge auf die Türkei ange­wiesen ist, ist das ein sehr schlechter Moment, um Sank­tionen gegen die Türkei anzudrohen.
Im Juli haben füh­rende tür­kische Poli­tiker bereits gesagt, dass der Flücht­lingsdeal in naher Zukunft Geschichte sein wird, wenn die EU nicht endlich ihre ver­trag­lichen Ver­pflich­tungen erfüllt. Wer die inter­na­tio­nalen Nach­rich­ten­agen­turen ver­folgt, der weiß also seit Juli, dass da was in der Luft ist, nur die deut­schen „Qua­li­täts­medien“ hielten es nicht für nötig, darüber zu berichten. Also habe ich es damals bereits getan.
Die deut­schen Medien wollten und wollen offen­sichtlich das Thema aus Deutschland fern halten, denn es standen Wahlen in Bran­denburg und Sachsen an und in sechs Wochen wählt Thü­ringen. Wenn es im Vorfeld dieser Wahlen Berichte gibt, dass sich eine neue Flücht­lings­welle nach Europa ergießt, kann man sich an drei Fingern abzählen, wer bei den Wahlen davon profitiert.
Dennoch bereiten die Medien ihre Leser schonend auf das kom­mende Unheil vor. Wir lesen inzwi­schen immer mal wieder etwas über die Situation auf der grie­chi­schen Insel Lesbos. Jedoch fehlt in diesen Artikeln der Hinweis auf die man­gelnde Ver­trags­treue der EU, vielmehr bekommt der deutsche Leser rüh­rende Ein­zel­schicksale von bedau­erns­werten Flücht­lingen prä­sen­tiert und erfährt, dass die Zahl der Flücht­linge wieder steigt. Schuld sind natürlich die kata­stro­phalen Bedin­gungen in der Türkei.
Ich meine das nicht einmal iro­nisch. Die Flücht­linge sind tat­sächlich bedau­ernswert. Nur könnten die Medien sachlich über die Ver­trags­ver­stöße der EU berichten und fordern, dass sich die EU an unter­zeichnete Ver­träge hält. Das würde die Lage der Flücht­linge ver­bessern. Statt­dessen wird das ver­schwiegen und der Leser darauf vor­be­reitet, dass sich da etwas anbahnt und natürlich die Türkei Schuld ist.
Wie das funk­tio­niert zeigt der Spiegel heute wieder in einem Artikel, der aus einem Lehrbuch über Beein­flussung der Leser­meinung stammen könnte. Die Ein­leitung stimmt den Leser so ein:

„Weil wieder mehr Men­schen aus der Türkei nach Grie­chenland über­setzen, werden mas­senhaft Asyl­be­werber von Lesbos aufs Festland ver­schifft. Der Flücht­lingspakt hängt am sei­denen Faden.“

Dann kommt der emo­tionale Bericht über das bedau­erns­werte (nicht iro­nisch gemeint) Ein­zel­schicksal. Das bedau­erns­werte Ein­zel­schicksal ist laut Lehrbuch Teil der Pro­pa­ganda. Der Leser wird bei seinen Emo­tionen gepackt, Mit­gefühl für die einen, Wut auf die anderen geweckt.
Der Artikel beginnt so:

„Am Morgen, an dem Saddam al-Ibrahim endlich die Hölle von Lesbos ver­lassen soll, ver­schläft er. Die Uhr zeigt 5.10 Uhr, unten an der Straße sammeln sich bereits Hun­derte Asyl­be­werber. Sie wollen einen der Busse erwi­schen, der sie zum Hafen bringt.“

Es geht dann in dem Artikel aus­führlich um al-Ibrahim, gerade so, als hätte Claas Relotius einen seiner berühmten, emo­tio­nalen – aber aus­ge­dachten – Artikel geschrieben:

„Wer es aus der Türkei bis hierher schafft und um Asyl bittet, muss oft Monate oder Jahre in einem über­füllten Camp aus­harren. Deshalb ist diese Aktion der grie­chi­schen Regierung eine Chance, die man besser nutzen sollte. Gerade, wenn man – wie der Syrer al-Ibrahim – mit acht Kindern, zwei Ehe­frauen, einem Schwie­gersohn und dem Sohn eines Cousins in einem Zelt wohnt, in dem es keinen Strom gibt.“

Wir lernen in emo­tio­nalen For­mu­lie­rungen, wie schwer al-Ibrahim es hat. Er kommt mit ganz vielen bedau­erns­werten Fami­li­en­mit­gliedern (ist also kein allein­rei­sender Mann) und so weiter. Die ersten fünf Absätze des Artikels haben kei­nerlei Nach­rich­tenwert, es geht nur um al-Ibrahim und beim Leser soll Mit­gefühl erzeugt werden.
Erst danach lesen wir von den plötzlich wieder stei­genden Flücht­lings­zahlen in Grie­chenland, aber bekommen kei­nerlei Hin­ter­grund­in­for­mation, woran es denn liegen könnte. Wie 2015 kommt angeblich alles ganz unerwartet:

„Seit Juni steigen in der Ägäis die Flücht­lings­zahlen. In dem Monat setzten 3100 Asyl­su­chende aus der Türkei auf die Inseln über, im Juli knapp 5000, im August dann rund 8100. So viele wie seit März 2016 nicht mehr.“

Dann kommt ein inter­es­santer Satz (der Link ist hier so gesetzt, wie in dem Spiegel-Artikel):

„Aspekte des Plans wurden nie umge­setzt

Und da dachte ich, man könnte unter dem Link endlich die feh­lenden Infor­ma­tionen über die Nicht­er­füllung des Flücht­lings­deals durch Brüssel finden. Aber Fehl­an­zeige.
Der Link führt nur zu einem wei­teren, sehr langen und hoch­emo­tio­nalen Spiegel-Artikel über ein Ein­zel­schicksal, diesmal geht es um eine Familie Toudji. Über die Nicht­um­setzung des Flücht­lings­deals, die man ent­spre­chend der Ver­linkung erwartet, steht dort aber nur:

„Auch der wich­tigste Bau­stein des EU-Türkei-Deals funk­tio­niert nicht. Eigentlich sollte Grie­chenland alle Migranten ohne Recht auf Asyl in Grie­chenland schnell wieder in die Türkei bringen – innerhalb von 25 Tagen. Doch das geschieht kaum. Bis Anfang April schob die Migra­ti­ons­be­hörde gerade einmal 41 Men­schen ab. Nach eigener Aussage, weil die Migranten als schutz­be­dürftig ein­ge­stuft worden waren und die Insel deshalb ver­lassen durften. Oder weil plötzlich doch noch ein Dokument fehlte. Wer trägt die Schuld an dem Chaos? Die EU-Kom­mission und die grie­chi­schen Behörden machen sich gegen­seitig Vorwürfe.“

Es gibt auch hier keine Hin­weise auf die Schuld der EU an dem Debakel. Der deutsche Leser soll nichts davon erfahren, dass die EU ihre Ver­pflich­tungen gegenüber der Türkei nicht erfüllt. Statt­dessen wird auf einen angeb­lichen Streit zwi­schen Brüssel und Athen ver­wiesen, der mit dem Flücht­lingsdeal gar nichts zu tun hat.
Also wieder zurück zum heu­tigen Spiegel-Artikel.
Nach einem kurzen, all­ge­meinen Exkurs über die kata­stro­phale Lage für Flücht­linge in Grie­chenland kommt der Spiegel wieder auf al-Ibrahim zurück. Es folgen wieder ganze fünf weitere Absätze über das bedau­erns­werte Schicksal des Mannes und seiner Familie.
Die wenigen tat­säch­lichen Fakten, also die stei­genden Flücht­lings­zahlen, hat der Spiegel geschickt zwi­schen ins­gesamt zehn Absätzen über ein tra­gi­sches Ein­zel­schicksal ver­packt. Unter­be­wusst ist der Leser so von Bedauern über die Lage der armen Men­schen erfasst, dass er die paar echten Fakten wahr­scheinlich überliest.
Aber niemand kann behaupten, der Spiegel hätte nicht darüber berichtet.
Erst nach einigen Absätzen über Gespräche von Merkel mit der neuen grie­chi­schen Regierung kommt ein Absatz, der sich an das wahre Problem zumindest herantastet:

„Erdogan nutze den Anstieg der Flücht­lings­zahlen, um Europa und der neuen grie­chi­schen Regierung zu zeigen, wie abhängig sie von der Türkei sind. Dass Ankara die Flücht­linge jederzeit wei­ter­reisen lassen könnte. Es gehe um Zuge­ständ­nisse der Europäer, unter anderem um Geld für die syri­schen Flücht­linge in der Türkei – aber auch um den tür­kisch-grie­chi­schen Streit um Gas­vor­kommen vor der Küste Zyperns.“

Aber wieder kein Wort über die von der EU ver­traglich zuge­sagten, aber nie umge­setzten Rei­se­er­leich­te­rungen für Türken. Der Spiegel erwähnt den Brüs­seler Ver­trags­bruch immer noch mit keinem Wort. Statt­dessen wird es so for­mu­liert, als sei Erdogan an allem Schuld und wolle nur Druck machen.
Und dieses Nar­rativ zieht sich danach durch den Rest des Artikels:

„Merkel und Mit­so­takis sandten ein deut­liches Signal an die Türken. Der grie­chische Außen­mi­nister bestellte den tür­ki­schen Bot­schafter ein und warf Ankara vor, sich nicht an das Abkommen zu halten. Denn das grie­chische Problem ist zugleich ein euro­päi­sches: Sollte das grie­chische Asyl­system zusam­men­brechen, würden die Asyl­be­werber über kurz oder lang wieder von den Inseln nach Nord­europa gelangen. Arbeitet die Türkei tat­sächlich absichtlich gegen den Flücht­lingspakt? Beweise für die Vor­würfe gibt es nicht.“

Es gibt keine Beweise? Seit Juli sagen es tür­kische Spit­zen­po­li­tiker ganz offen! Aber das weiß der Spiegel-Leser ja Gott sei Dank nicht. 
Hätte der Spiegel darüber berichtet, hätte er ja auch über die Gründe berichten müssen. Für den Spiegel ist es jedoch undenkbar, dass die EU einen gül­tigen Vertrag nicht erfüllt, das braucht der deutsche Leser nicht zu wissen.
Und dann, noch mal einige Absätze später (ja, es ist ein sehr langer Artikel), zeigt der Spiegel sein wahres Können. Nachdem der Leser emo­tional die Flücht­linge bedauert und so richtig sauer auf die herzlose Türkei ist, räumt der Spiegel ein:

„Uneins sind EU und die Türkei auch in der Frage, wer genau den Flücht­lingsdeal nicht erfüllt. Die EU erfülle ihre Ver­sprechen nicht, Ankara erwarte mehr von der EU, „das ist kein Geheimnis“, sagt Özügergin.“

Man ist sich also „uneins“, lernen wir im Spiegel. Dass die EU ihre Ver­sprechen nicht erfüllt wird hier als Behauptung des tür­ki­schen Bot­schafters in Grie­chenland, Özü­gergin, dar­ge­stellt. Aber wer glaubt, nachdem der Spiegel seinen Leser über mehr als zwanzig Absätze gegen die Türkei in Stimmung gebracht hat, noch einem Ver­treter der Türkei?
Direkt danach schreibt der Spiegel:

„Ver­sprochen hatte die EU einst bis zu sechs Mil­li­arden Euro für die vier Mil­lionen Flücht­linge in der Türkei. Noch ist nicht alles geflossen, auch die ver­spro­chenen Visa-Erleich­te­rungen für tür­kische Bürger hat die EU nie eingeführt.“

Ups! Tat­sächlich, ich erzähle keinen Unsinn, die EU hat die Rei­se­er­leich­te­rungen für Türken tat­sächlich nie ein­ge­führt. Und niemand kann dem Spiegel vor­werfen, er hätte es nicht berichtet.
Er hat es aber sehr gut ver­packt: Im gleichen Absatz, in dem der tür­kische Bot­schafter zitiert so zitiert wurde, als würde er Unsinn erzählen. Der normale Leser merkt dabei den ent­schei­denden Unter­schied nicht. Die „Behaup­tungen“ des tür­ki­schen Bot­schafters sind im Kon­junktiv als seine Worte kenntlich gemacht. Die dann unmit­telbar fol­genden Sätze, das Ein­ge­ständnis, dass die EU ihre Ver­pflich­tungen tat­sächlich nie erfüllt hat, sind nicht mehr im Kon­junktiv. Da es aber alles zusammen in einen Absatz gepackt wurde, bemerkt kaum ein Leser, wo die „Behaup­tungen“ des Türken enden und die Wahrheit beginnt. Der normale Leser hält auch dieses Ein­ge­ständnis der EU-Ver­trags­brüche nur für eine weitere tür­kische Behauptung.
Ein Meis­ter­stück in Sachen Leser­ma­ni­pu­lation! Dieser Artikel könnte es durchaus als Lehr­stück an Uni­ver­si­täten schaffen und das meine ich ganz im Ernst. Der Spiegel gibt am Ende die Wahrheit tat­sächlich zu, baut sie aber so geschickt in den Artikel ein, dass die meisten Leser die Wahrheit nicht als solche erkennen, sondern für eine Behauptung des tür­ki­schen Bot­schafters halten, den der Spiegel vorher in aller Aus­führ­lichkeit unglaub­würdig gemacht hat.

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Genial!
Der Artikel endet danach wieder mit al-Ibrahim und seinem Happy End, er hat es nach all den Stra­pazen auf´s grie­chische Festland geschafft.
Ich habe selten ein so geniales Bei­spiel für mani­pu­lative Artikel gesehen. Ein Meis­terwerk, wenn man es aus dieser Per­spektive betrachtet. Wirklich die Arbeit von „Qua­li­täts­medien“! Aber „Qua­lität“ meine ich hier als Aus­druck für gelungene Mani­pu­lation der Leser, als als „Qua­lität“ im Sinne von guter jour­na­lis­ti­scher Arbeit.
Aus jour­na­lis­ti­scher Sicht ist der Artikel eine Kata­strophe, er erfüllt alle im Lehrbuch genannten Merkmale von Pro­pa­ganda. Und Pro­pa­ganda hat nichts mit Jour­na­lismus zu tun.
Bleibt die ent­schei­dende Frage: Schaffen es die Medien, das Thema auch wei­terhin unter dem Teppich zu halten, bis die Wahl in Thü­ringen über­standen ist? Wie lange lässt sich das Ausmaß des poli­ti­schen Ver­sagens der EU-Politik noch hinter dem Berg halten? Und wann werden die Folgen einer neuen Flücht­lings­welle so deutlich, dass sie nicht mehr vor den Deut­schen geheim gehalten werden können?


Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“