Schon vor einigen Tagen ist mir die NZZ negativ aufgefallen, als ein Propagandist den Menschen erklären durfte, warum Deutschland lieber mehr Geld für Waffen, als für Kitas ausgeben solle. So lautete sogar sinngemäß die Überschrift. Und auch in dem Artikel nahm es der Verfasser mit der Wahrheit nicht allzu genau.
Nun gibt es in der NZZ also einen Artikel über Russland, der nach dem gleichen Muster gestrickt ist. Die Überschrift gibt den Weg vor: „Russlands Opposition befindet sich in der politischen Verbannung“
Und die Lügen beginnen schon im ersten Absatz, wo der Autor behauptet, in Moskau hätten kürzlich 60.000 Menschen für die Opposition demonstriert. In Wirklichkeit haben sogar die Organisatoren der Demonstration nur von 50.000 Teilnehmern gesprochen, die Polizei sprach von 20.000. Und wer sich den Ort anschaut, der stellt fest, dass die Demonstration auf gerade mal ca. 13.000 Quadratmeter stattgefunden hat. Wenn dort 50.000 Menschen gewesen sein sollen, dann wären das ca. vier Menschen pro Quadratmeter gewesen, das ist schon sehr ambitioniert. Ich habe das hier für jeden nachprüfbar aufgezeigt.
Aber der Autor bei der NZZ schreibt von 60.000 Teilnehmern, wahrscheinlich werden wir demnächst auch irgendwo etwas von 100.000 Teilnehmern lesen.
Bei der NZZ kann man dann ausführlich lesen, dass Russland ganz und gar keine Demokratie ist. Es gipfelt in dem Satz:
„Wahlen wurden entsprechend organisiert oder ganz abgeschafft.“
Natürlich ist der Autor nicht ins Detail gegangen, denn es wurden in Russland keine Wahlen abgeschafft. Ich würde den Autoren gerne fragen, welche Wahlen in Russland abgeschafft worden sind, alle politischen Amtsträger werden in Russland in direkter Wahl vom Volk gewählt.
Danach lernen wir, wie schlecht es der Opposition in Russland angeblich geht:
„So wird Pluralismus nur vorgegaukelt. Oppositionelle Parteien mit radikaleren Ideen zur Umgestaltung der Politik wurden spätestens seit 2007 aus dem offiziellen System hinausgedrängt.“
Zunächst einmal wurde niemand „aus dem offiziellen System hinausgedrängt„, keine Partei, die es vor 2007 in Russland gab, ist verboten worden. Wenn eine Partei keine Wähler mehr begeistern kann und in der Versenkung verschwindet, ist das kaum die Schuld der anderen Parteien.
Aber man muss den Satz analysieren, um ihn zu verstehen. Der Autor spricht von „radikalen Ideen zur Umgestaltung„. Wenn das Vorhandensein von Parteien, die „radikale Ideen zur Umgestaltung der Politik“ haben, ein Zeichen für Demokratie sein soll, dann ist es um die Demokratie in den westlichen Ländern aber sehr traurig bestellt. Oder können Sie mir eine Partei in Deutschland, Frankreich, England, den USA und so weiter nennen, die „radikale Ideen zur Umgestaltung der Politik“ hat?
Natürlich nicht. Mehr noch: Eine solche Partei würde in Deutschland als verfassungswidrig verboten werden, denn eine „radikale Umgestaltung der Politik“ würde zwangsläufig gegen die „Werte des Grundgesetzes“ verstoßen. Aber für Russland findet der Autor etwas völlig in Ordnung, was ihm in Deutschland in heftige Schnappatmung versetzen würde.
Dann erklärt uns der Autor, warum Russland auf keinen Fall eine Demokratie sein kann:
„Wie wenig es vorgesehen ist, dass selbst Exponenten der drei loyalen Oppositionsparteien – die Kommunisten, Wladimir Schirinowskis Liberaldemokraten sowie die Partei Gerechtes Russland – Wahlen gewinnen, zeigte sich bei den Regionalwahlen vor einem Jahr.“
Die Oppositionsparteien, die es in Russland wirklich gibt und die auch gegen manches von der Regierung eingebrachte Gesetz stimmen, nennt er „loyale Oppositionsparteien„. Auch hier haben wir wieder eine Gemeinsamkeit mit Deutschland gefunden: Sind die Grünen oder die FDP in Deutschland etwa fundamentale Oppositionsparteien? Nein, sie stimmen bei den meisten Gesetzen fröhlich zusammen mit der Regierung ab. Die Parteien in Deutschland haben sich inzwischen so sehr aneinander angenähert, dass sie kaum noch zu unterscheiden sind und auch alle miteinander in Koalitionen treten können. Die programmatischen Unterschiede der etablierten Parteien in Deutschland sind nicht mehr größer, als seinerzeit bei den Blockparteien der DDR.
Bei Fragen der Bildung, von Sozialprogrammen und so weiter sind die Positionen der russischen Parteien oft sehr unterschiedlich und sie streiten sich heftig. Aber bei den zentralen Fragen der Politik sind sie sich einig. So wie in Deutschland keine etablierte Partei die Nato-Mitgliedschaft Deutschlands in Frage stellen würde, so würde keine Partei in Russland die russische Souveränität in Frage stellen, seine eigene außenpolitische Agenda zu haben.
Danach kommt der NZZ-Artikel zu den Wahlen letztes Jahr:
„In vier Regionen erzwangen Gouverneurskandidaten aus deren Reihen einen zweiten Wahlgang; das war zuvor nie vorgekommen. Die Überlegung, schwache Bewerber dieser Parteien seien ohnehin keine Gefahr für den offiziellen Kandidaten, stellte sich als Fehler heraus. In drei von vier Regionen nahm der Kreml schliesslich mit Zähneknirschen den Sieg des «Falschen» an.“
Auch das müssen wir genau lesen, denn erstens gibt der Autor unfreiwillig zu, dass es in Russland eben doch eine Demokratie gibt, wenn Kandidaten der Opposition gegen Kandidaten der Regierungspartei Wahlen gewinnen können. Und zweitens lügt er, denn von „Zähneknirschen“ konnte keine Rede sein. Es war vor einem Jahr sogar so, dass die Wahlkommission eine Wahl wegen Unregelmäßigkeiten für Ungültig erklärt hat, nachdem dort der Kandidat der Regierungspartei gewonnen hat. Die Wahl musste wiederholt werden. Übrigens ist die Leiterin der Wahlkommission, Ella Pamfilowa, eine Kritikerin von Putin. Ihre Ernennung haben die westlichen Medien damals gefeiert, aber nun erinnern sie sich daran nicht mehr, wenn sie über die anstehenden Wahlen in Russland und die Proteste der Opposition berichten. Es wäre den Lesern ja auch schwer zu vermitteln, dass eine ausgewiesene Putin-Gegnerin nun die Kandidaten der Opposition nicht zur Wahl zulässt.
Weiter kann man in der NZZ lesen:
„Die eigentliche Opposition – eine, die ihrem Namen als Herausforderin der Staatsmacht und von deren politischen Vorstellungen gerecht wird – befindet sich gleichsam in der Verbannung.“
Und wieder habe ich ein Frage zu Deutschland: Können Sie mir in Deutschland eine Partei nennen, die „ihrem namen als Herausforderin der Staatsmacht gerecht wird„? Sollen das etwa die Oppositionsparteien Grüne und FDP sein? Das trifft doch nicht einmal auf AfD und Linke zu!
Es sind so griffige Formulierungen der anti-russischen Propagandisten in den deutschen Medien, die gut klingen, aber wenn man sie einmal hinterfragt, dann brechen sie in sich zusammen.
Und um den Leser emotional gegen Russland in Stellung zu bringen, folgen danach regelrecht wirr aneinander gereihte Vorwürfe der Opposition und Kritik am bösen Russland:
„Oppositionsvertreter werden – wie jetzt auch bei den Moskauer Protesten – oft gleich mehrmals hintereinander in Polizeihaft genommen; Strafverfolgungsbehörden und Gerichte arbeiten gegen sie und kriminalisieren sie. Gegen Demonstrationsteilnehmer sind sogar Verfahren zum Entzug des Fürsorgerechts für die Kinder eingeleitet worden. Selbst Staatsbetriebe und Privatunternehmen werden gegen sie eingesetzt: Die Moskauer Verkehrsbetriebe, Restaurants und Taxibetriebe haben wegen der mit den unbewilligten Protesten verbundenen Umsatzeinbussen Zivilklagen gegen mehrere Oppositionspolitiker in Höhe von insgesamt 14 Millionen Rubel (200 000 Franken) eingereicht.“
So geballt klingt das alles ganz schrecklich, aber wenn man es einmal näher anschaut, bleibt nicht viel übrig.
Würde der Autor zum Beispiel berichten, dass die Leute nicht in „Polizeihaft“ waren, sondern lediglich ein paar Stunden auf der Wache waren, wo ihre Personalien festgestellt wurden und dass sie danach alle wieder mit einem Bußgeldbescheid über ca. 40–50 Euro wieder nach Hause gehen durften, würde es schon nicht mehr so dramatisch klingen.
Und wenn der Autor erwähnt hätte, dass den Eltern, denen ein Verfahren zum Entzug des Sorgerechts droht, ihren Säugling dazu benutzt haben, damit einer der Einpeitscher einer illegalen Demonstration in der Rolle als angeblicher Vater den Ort des Geschehens zu verlassen konnte, ohne von der Polizei kontrolliert zu werden, dann klingt das auch schon etwas anders. Immerhin hätte es auch zu Ausschreitungen kommen können und das ist nicht unbedingt ein Ort, wohin man seinen Säugling mitnimmt. Und wenn der Autor dann auch noch erwähnt hätte, dass die Menschenrechtsbeaufragte des Kreml den Eltern bei dem Verfahren Unterstützung zugesichert und die Staatsanwaltschaft aufgefordert hat, das Verfahren einzustellen, dann klingt die Geschichte noch einmal ganz anders.
Und dass sich Geschäfte und Restaurants, die wegen der nicht genehmigten Proteste mit Schadensersatzforderungen an die Organisatoren wenden, ist kaum die Schuld des Staates. Das wäre in Deutschland kaum anders, wenn jemand zu einer Demonstration aufrufen würde, die, warum auch immer nicht genehmigt, aber trotzdem abgehalten wird und dadurch den Restaurants die Besucher wegbleiben. Wenn man den oder die Verantwortlichen greifen kann, würde man ihn oder sie natürlich auf Schadensersatz verklagen.
Aber so funktioniert das Russland-Bashing in den westlichen Medien: Entscheidende Informationen weglassen, dafür möglichst emotional berichten, damit sich bei den Lesern das gewünschte Bild im Kopf festsetzt.
Das nennt man in Deutschland „Qualitätsjournalismus“.
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“