Ode an Oma

Gewidmet allen jet­zigen und zukünf­tigen Omas

(von Maria Schneider)

Vor­ge­schichte:

Meine Oma Rita wurde 1914 in eine Rosen­gärt­nerei geboren und erlebte den 2. Welt­krieg hautnah mit. Kurz vor Ende des Krieges wurde 1944 ein est­ni­scher Flüchtling bei ihr ein­quar­tiert, in den sie sich bald ver­liebte. Doch der Este litt unter Melan­cholie – er sehnte sich nach seiner Frau und seinen beiden Kindern, die wegen der Kriegs­wirren in Polen gestrandet waren. Als sie 1945 endlich einen Platz auf der Gustloff ergattert hatten und auf dem Weg zu ihm ertranken, war er am Boden zer­stört und unternahm einen Selbstmordversuch.

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Meine Oma besuchte ihn im Kran­kenhaus und küm­merte sich rührend um ihn, bis er sie schließlich — ihrer Erzählung nach — 1946 während ihres Mit­tag­schlafs auf der Couch ver­ge­wal­tigte. Meine Oma wurde mit 32 Jahren als unver­hei­ratete „alte Jungfer“ von meinem Groß­vater schwanger. Ob sie die Ver­ge­wal­tigung erfunden hat, weil sie sich damals schämte, oder ob sie wirklich stattfand, werden wir nie mehr erfahren, da meine Oma Rita 2005 starb.

Fest steht, dass 1947 meine Mutter Stella geboren wurde. Meine Oma Rita war zur Geburt eigens in eine andere Stadt gereist und übergab meine Mutter direkt nach ihrer Geburt einer Pflegefamilie.

Da die Beziehung mit meinem Groß­vater nicht glückte, musste sich meine Oma Rita in der Nach­kriegszeit als Allein­er­zie­hende mit ihrer Rosen­gärt­nerei durchschlagen.

Als meine Mutter Stella älter wurde, parkte meine Oma sie deshalb immer wieder in einem Wai­senhaus mit Schwestern – genauso, wie man sie aus Filmen kennt. Bei den Weih­nachts­feiern mit mit­lei­digen Spendern über­eichten die unbarm­her­zigen Schwestern den Wai­sen­kindern lächelnd ihre Geschenke, kon­fis­zierten sie jedoch sofort wieder, sobald der letzte Spender den Raum ver­lassen hatte. Regel­mäßig wurden die Haare der Kinder ohne viel Feder­lesens mit eng­zin­kigen Kämmen auf Läuse durch­ge­kämmt und auch sonst wurden die Kinder wie lästige Gegen­stände behandelt. Nichts wurde ver­schwendet, auch Liebe und Mit­gefühl wurden sparsam verteilt.

Als sie älter wurde, musste meine Mutter Stella bei einer Groß­tante in der nahe­ge­le­genen Stadt leben und dort zur Schule gehen. Im Ver­gleich zu ihrer Groß­cousine wurde sie wie Aschen­puttel behandelt und sah ihre eigene Mutter nur sehr selten.

So war die Nach­kriegszeit. Trotz Wirt­schafts­wunder lebten sehr viele Men­schen in Armut und mussten mit sehr wenig aus­kommen. Alles wurde auf­ge­hoben, Essen mehrmals auf­ge­wärmt. Kleidung wurde geflickt und getragen, bis sie vom Körper fiel.

Oma Rita kaufte sich die letzten 30 Jahre ihres Lebens keine neuen Kleider mehr, sondern trug ihre alten Sachen auf. Als sie starb, fanden wir ihre selbst­ge­schnei­derten Kostüme und schöne Stoffe in ihrem Schrank, die noch wie neu waren.

Meine Oma war kein ein­ziges Mal in ihrem Leben im Urlaub, hatte noch nie ein Flug­zeuge von innen gesehen oder gar ein Kreuz­fahrt­schiff betreten. Nach einem langen Leben voll harter, kör­per­licher Arbeit bezog sie eine winzige Rente und erhielt von Bäckern regel­mäßig große Tüten mit alten Brötchen, die sie dann in Wasser auf­weichte. Ich habe ver­sucht, ihr so gut wie möglich zu helfen, aber leider war sie sehr stolz und eigen­sinnig und konnte nur schwer Hilfe annehmen.

Meine Mutter Stella ist 72 Jahre alt und inzwi­schen auch Oma. Sie ist in ihrem Leben genau einmal wegen drin­gender Fami­li­en­an­ge­le­gen­heiten geflogen und war zwei Mal an der Nordsee im Urlaub. Seit ein paar Jahren bezieht sie eine kleine Müt­ter­rente, weil sie 6 Kinder groß­ge­zogen hat. Einen Zahnarzt kann sie sich aber trotzdem nicht leisten, und so fehlen ihr inzwi­schen einige Zähne.

Am 2. Welt­krieg war sie logi­scher­weise nicht beteiligt. Dennoch haben die Härten der Nach­kriegszeit sie von Kind an geprägt. Dass die Ruinen der Stadt die feh­lenden Spiel­plätze ersetzen, war für ihre Gene­ration normal.

Als älteste Tochter (1967 geboren) habe ich noch heute meine Mutter Stella vor Augen, wie sie Geschenk­bänder über dem heißen Ofenrohr glättet, um sie wie­der­zu­ver­wenden. Geschenke wurden sorg­fältig ent­packt und das Papier auf­ge­hoben. Das prägt, und so quellen auch meine Schub­laden vor vor­sichtig gefal­teten Bändern über.

Wir vier Schwestern schliefen alle im selben Zimmer, in dem auch unser gemein­samer, kleiner Klei­der­schrank stand.

Morgens wachten wir in einer kalten Wohnung auf, die erst warm wurde, wenn wir Kinder Öl und Kohlen aus dem Keller geholt hatten.

Gebadet wurde nur samstags, nachdem wir den großen Ofen im Bad mit Holz ein­ge­heizt hatten – und zwar nach­ein­ander im selben Wasser. Unter der Woche mussten wir mit kaltem Wasser Vorlieb nehmen.

Im Wohn­zimmer thronte unser knall­oran­genes Telefon mit Wähl­scheibe auf einem Bei­stell­tisch. In der Aus­sparung für die „1“ befand sich ein kleines Schloss, damit keines der Kinder unnötige Tele­fonate führte und Geld verschwendete.

Es gab keine Spül­ma­schine. Statt­dessen hatten wir rotie­rende Küchen­dienst­wochen, in denen man Stunden damit zubrachte, für 8 Per­sonen Geschirr zu spülen, als noch 2 weitere Geschwister dazu­ge­kommen waren.

Strom­fres­sende Wäsche­trockner hatten Sel­ten­heitswert. Warum auch? Schließlich trocknete die Wäsche auch draußen. Wenn ich mich beschwerte, dass mir beim Auf­hängen der Wäsche in der eisigen Win­ter­kälte die Finger abfrieren würden, lautete die Antwort: „Stell‘ Dich nicht so an.“

Jede Weih­nachten kaufte meine Mutter Stella beson­deren Käse. Dieser Käse war so kostbar, dass meine Mutter es nicht über das Herz brachte, ihn zu essen. Immer wieder öff­neten wir die Kühl­schranktüre und schauten den Käse sehn­süchtig an. Aber wie jedes Jahr wurde er irgendwann schlecht und schließlich weg­ge­worfen, ohne dass wir auch nur ein Stück davon gegessen hätten.

Bis heute gelingt es meiner Mutter Stella nicht, sich einfach mal so etwas zu gönnen. Einmal musste ich stun­denlang auf sie ein­reden, bis sie sich endlich eine neue Bluse kaufte. Doch genießen konnte sie ihre Bluse nie wirklich, weil sie einfach zu schön zum Tragen war.

Heute bin ich mit 52 Jahren selbst im Alter einer jungen Oma. Mein erstes eigenes Klei­dungs­stück – ein rosa Sweat­shirt – kaufte ich mir mit 16 von meinem eigenen Geld, das ich mit dem Aus­tragen von Zei­tungen ver­dient hatte. Vorher hatte ich die Kleidung meiner Tante und der Kinder anderer Mütter auf­ge­tragen. Manche Klei­dung­s­tücke hatten bereits 4 Per­sonen durch­laufen, bevor sie bei meiner jüngsten Schwester landeten.

Ein Auto habe ich nie besessen. Kreuz­fahrten sind mir ein Gräuel und fliegen tue ich nur, wenn ich wirklich muss. Dafür fahre ich ständig Bahn und habe es – im Gegensatz zu Greta – noch nie erlebt, dass ich in einem über­füllten Zug mut­ter­see­len­allein im Gang sitze.

Meine Mutter Stella und meine Oma Rita hätten eigentlich einen Orden von Greta und ihren Anhän­ge­rinnen für ihr Umwelt­be­wusstsein ver­dient. Doch dafür müssten die Mädchen von ihren Eltern lernen, wie man seinen Mit­men­schen gegenüber Respekt und Mit­gefühl zeigt.

Da dies wohl in nächster Zeit nicht zu erwarten ist, erweise ich meiner Oma und allen anderen Omas auf der Welt die Ehre, indem ich mit „Ode an Oma“ schließe, was ich zur Beer­digung meiner Oma Rita ver­lesen habe. Denn eines sollten wir nie ver­gessen: Die Mütter der Kinder im WDR-Chor und all die jungen Frauen, die auf den Straßen demons­trieren, werden irgendwann selbst einmal Oma sein.

Ode an Oma

Liebe Oma, du weißt natürlich selbst am besten, dass es nicht immer einfach war, mit dir aus­zu­kommen. Aber gerade das hat dich in den letzten Jahren so lie­benswert gemacht. Du warst kon­se­quent bis zuletzt.

Wenn mich meine Freun­dinnen nach dir gefragt haben, konnte ich immer die besten Geschichten erzählen und stets mit einer großen Zuhö­rer­schaft rechnen. Während sich eine wach­sende Runde von Zuhörern um mich sam­melte, erzählte ich, dass du allein auf einem rie­sigen Grund­stück wie eine Königin wohnst. Dass du mit stolzen 90 Jahren noch immer keine Brille brauchst und glasklar im Kopf bist.

Wenn sie wissen wollten, wie du aus­siehst, habe ich immer gesagt: „Stellt euch eine ganz alte Frau aus der Mon­golei oder in Sibirien vor, klein, dünn und zäh mit knor­rigen, arthri­ti­schen Arbeits­händen, wie aus dem Boden her­aus­ge­wachsen.“ Und so warst du auch – natur­ver­bunden, gerade heraus und zäh. Was die anderen dachten und was man tat, hat dich nie interessiert.

Auf deine Tiere hast du nie etwas kommen lassen. Als meine Schwestern und ich bei dir in dem rie­sigen, ver­wun­schenen Garten auf­wuchsen, konnten wir hautnah Gene­ra­tionen von Enten, Gänsen, Hühnern, Trut­hähnen, Tauben und Hunden mit­er­leben. Wer bekommt so etwas heute noch geboten?

Nichts war schöner, als den Hühnern hin­ter­her­zu­rennen, sie zu fangen und dann mit großem Schwung über den Drahtzaun in ihr Gehege zu werfen. Von dort stol­zierten sie wieder nach draußen und das Spiel konnte von vorne los­gehen. Das hielt die Hühner auf Trapp, brachte gute Eier und auch letzt­endlich vor­züg­liche Braten, die wir dann bei dir ver­speisten. Wen küm­merte es da schon, dass Hennen bei dir in der Küche wohnten, oder dass die flau­schigen, gelben Küken gar auf dem Küchen­tisch spa­zieren gingen? Wir langten trotzdem kräftig zu und ver­putzen delikate Braten, vor­züglich panierte Schnitzel, die tra­di­tio­nellen Rohr­nudeln und — nicht zu ver­gessen ‑dein wun­der­bares Gebäck — stets darauf ver­trauend, dass die Hitze des Ofens sämt­liche Spuren des leben­digen Geflügels in der Küche ver­nichten würde.

Du warst immer eine Geschichte wert. Wenn du z.B. erzählt hast, dass der Nachbar eine Seele schwarz wie ein Ofenrohr hätte oder der Ex-Kanzler Schröder gemeinsam mit schönen Models auf den Titel­blättern abge­bildet wäre, weil er scharf auf die Models ist, haben wir geschrien vor Lachen. Ich weiss auch noch, dass du mit 70 noch auf den Apfelbaum geklettert bist, weil du sonst einfach nicht an die Äpfel gekommen wärest.

Viele kannten dich auch vom Stra­ßen­verkehr. Du warst die alte Dame mit der über­großen Son­nen­brille und dem kana­ri­en­vo­gel­gelbem Hut, die den schnit­tigen, zitro­nen­gelben Citroën fuhr und schon 1 km vor der Rechts­kurve zu deinen Garten anfing, zu blinken. Oder — wenn der Blinker mal wieder kaputt war — einfach den Arm zum Fenster herausstreckte.

Selbst im Kran­kenhaus hast du dir deinen Humor und Mut­terwitz bewahrt und stets den Kern der Sache getroffen. Als du bereit für die Pfleger warst, hast du mit einer könig­lichen Hand­be­wegung gerufen „Holt die Wärter“. Oder als ich von der Armut der Men­schen in der Karibik sprach, wo ich meinen letzten Urlaub ver­bracht hatte, hast du ganz listig vor­ge­schlagen, ich hätte mir doch einfach einen der Männer dort als Haus­hälter mit­nehmen sollen.

Ein Besuch bei dir war immer ein Erlebnis. Im Garten schien die Zeit still­zu­stehen. Auch in deiner Wohnung hatte sich seit über 40 Jahren nichts ver­ändert. Es gab immer deinen wun­der­baren Kaffee, nach einer ganz spe­zi­ellen Methode in der einzig rich­tigen Stein­gut­kanne auf­ge­brüht. Nach dem Kaffee folgte das Ritual der Tier­füt­terung. Nichts war wit­ziger als dich zu beob­achten, wie dir die Gänse im Gän­se­marsch in den Stall folgten oder wie du mit gezielten, flinken Bewe­gungen die Küken ein­fingst, um sie für die Nacht in einen kleinen Käfig zu stecken. Und komme was da wolle, du hast nie jemanden mit leeren Händen gehen lassen — seien es frische Eier von wahrhaft glück­lichen Hühnern, ein Korb Äpfel oder ein Rosenstrauß.

Manche nannten dich stur und eigen­sinnig. Man könnte auch sagen, du warst eine Frau mit ehernen Prinzipien.

Du hast immer gesagt, eine Frau und ein Mann müssten von Tisch und Bett getrennt leben. Und so haben wir dich auch immer gekannt: Als allein­ste­hende Frau, die ihre Erfüllung in ihren Tieren und Rosen fand. Du hast auch gesagt, das Allein­leben macht dir nichts aus, solange du deine Tiere und dich ver­sorgen kannst. Umso bit­terer war es dann für dich, dass dies in den letzten Jahren immer schwie­riger für dich wurde und dir sozu­sagen deine Aufgabe genommen wurde.

Ich weiß, dass in den letzten Jahren dann doch die Ein­samkeit zuge­schlagen hat und leider konnte ich dich nicht so oft besuchen, wie ich gerne gewollt hätte. Auch dass du trotz deines erbit­terten Kampfes deine Unab­hän­gigkeit nicht bewahren konntest, war sehr schlimm für dich.

Am meisten bedaure ich, dass du nicht zu Hause sterben konntest, weil ich weiß, dass das dein größter Wunsch gewesen wäre. Ich habe mich daher nicht gewundert, dass du dich so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht hast, als klar war, dass du nicht mehr heim­kehren würdest.

Ich werde mich immer an meine Kindheit in deinem schönen Garten erinnern, die wie ein ein­ziger langer Sommer war. Und damit auch deine Urenkel wissen, was für ein Ori­ginal ihre Urgroß­mutter war, werde ich ihnen von dir erzählen und ihnen die Filme mit dir in Aktion zeigen. Der Titel wird natürlich lauten: Rita — die Rosenkönigin.

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Maria Schneider ist freie Autorin und Essay­istin. In ihren Essays beschreibt sie die deutsche Gesell­schaft, die sich seit der Grenz­öffnung 2015 in atem­be­rau­bendem Tempo ver­ändert. Darüber hinaus verfaßt sie Reiseberichte. 

Kontakt: Maria_Schneider@mailbox.org