Liberale Demo­kratie statt Tyrannei der Mehrheit

Jede Ver­fassung hat einen ver­bind­lichen Kern­be­stand, der nicht in Frage gestellt werden darf und nicht ver­han­delbar ist. Dieser Kern­be­stand kann nicht vom Volk per Mehr­heits­ent­scheid abge­wählt werden. Und wer diesen Kern­be­stand durch seine Gesinnung (schon die Ein­stellung reicht aus) oder Hand­lungen ablehnt, macht sich selbst auto­ma­tisch zum Ver­fas­sungs­feind. In der libe­ralen (frei­heit­lichen) Demo­kratie gehören dazu ins­be­sondere die uni­ver­salen Men­schen­rechte, die Volks­sou­ve­rä­nität (Demo­kra­tie­prinzip), die Gewal­ten­teilung und die Rechts­staat­lichkeit. Das Demo­kra­tie­prinzip und die Men­schen­rechte können in einer libe­ralen Demo­kratie also nicht demo­kra­tisch abge­schafft werden und nicht jeder, der in freien Wahlen gewählt wurde, ist des­wegen schon ein libe­raler Demokrat.

Die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit

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Einer der ersten Demo­kra­tie­kri­tiker, die die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit sahen, war der fran­zö­sische Publizist, Poli­tiker, His­to­riker und Begründer der Ver­glei­chenden Poli­tik­wis­sen­schaft Alexis de Toc­que­ville (1805 – 1859). Toc­que­ville bereiste im Auftrag der fran­zö­si­schen Regierung die USA mit seinem Freund Gustave de Beaumont. Aus der Ame­ri­ka­reise (von Mai 1831 bis Februar 1832) und den dort gemachten Erfah­rungen resul­tiert das berühmte Hauptwerk De la démo­cratie en Amé­rique (Über die Demo­kratie in Amerika, zwei Bände, Paris 1835/1840). Toc­que­ville beschreibt ins­be­sondere das Ver­hältnis von Gleichheit und Freiheit. Er sieht darin keine Prin­zipien von gleicher Wich­tigkeit, sondern spricht sich deutlich für den Vorrang der Freiheit (liberté) aus.

Die in einem auf­ge­klärten Staat ent­ste­hende formale Gleichheit der Bürger habe ver­schiedene Aus­wir­kungen. Zunächst werde durch den Wegfall stän­di­scher Ord­nungen und durch die Rechts­gleichheit aller Bürger jener Raum geschaffen, den ein frei­heit­liches Indi­viduum benötige. Der Wegfall von Auto­ri­täten und die Unab­hän­gigkeit der Men­schen begründen jene Frei­heits­liebe, die demo­kra­tische Gesell­schaften und ihre Insti­tu­tionen aus­zeichnet. Daraus könne aber leicht Anarchie, also die Abwe­senheit jeg­licher Herr­schaft ent­stehen, so dass es nichts mehr gibt, was die Gesell­schaft innerlich zusam­menhält, meinten die Kri­tiker einer frei­heitlich-demo­kra­ti­schen Ordnung.

Toc­que­ville wider­spricht dem nicht, sieht darin aber nicht das Haupt­problem des Gleich­heits­prinzips. Vielmehr fürchtet er eine schlei­chende Beein­träch­tigung des Frei­raums der Bürger: „Die Gleichheit löst nämlich zwei Ten­denzen aus: die eine führt die Men­schen gera­dewegs zur Freiheit und kann sie auch plötzlich in die Anarchie treiben; die andere leitet sie auf län­gerem, ver­schwie­ge­nerem, aber sicherem Wege in die Knecht­schaft.“ Während sich ein frei­heitlich-demo­kra­ti­scher Staat gegen die Anarchie zu schützen weiß, ist die Abwehr des Ver­lusts indi­vi­du­ellen Frei­raums durch Gleich­ma­cherei schwie­riger, da diese sowohl den Nei­gungen der Masse der Bürger ent­spreche als auch dem Staat gelegen komme, der die Ein­zelnen so leichter lenken kann.

Die Gefahr eines über­mäch­tigen sozialen Staates, der die Bürger zunehmend entmündigt

Für Toc­que­ville führt das Prinzip der Gleichheit ten­den­ziell zu einem starken, zen­tra­lis­tisch orga­ni­sierten Staat, gegen den sich das Indi­viduum nicht mehr wehren könne (siehe heute die EU). Daraus ent­stehe eine gren­zenlose „Volks­gewalt“. Die Reprä­sen­tanten dieser Macht werden sich ihrer Gewalt all­mählich bewusst und fördern diese Position aus Eigen­in­teresse (siehe ins­be­sondere die SPD und die Links­partei, auch die Grünen). Die Regie­renden können schließlich „alle Vor­gänge und alle Men­schen ver­walten“.

Für Toc­que­ville ent­steht dadurch ein Transfer von Ver­ant­wort­lich­keiten. Die Regie­renden sehen ihre Aufgabe nun auch darin, den Bürger „zu leiten und zu beraten, ja ihn not­falls gegen seinen Willen glücklich zu machen. Umge­kehrt über­tragen die Ein­zelnen immer mehr ihre Selbst­ver­ant­wortung auf die staat­liche Gewalt. Letztlich befürchtet Toc­que­ville ein Abrut­schen in die Unfreiheit, wenn die Gleichheit zum ein­zigen großen Ziel wird. Das Streben nach Gleichheit könne zu einer regel­rechten Uni­for­mi­sierung unter einer starken Zen­tral­gewalt führen.

Diese, so die Gefahr, könne im Zuge des Strebens nach immer mehr Gleichheit (Homo­ge­nität) ihre eigenen Bürger, also den Sou­verän, mehr und mehr ent­mün­digen, was seiner Würde (Selbst­be­stimmung) wider­spricht. Dadurch aber wird der Ein­zelne immer mehr vom Handeln der jewei­ligen Regierung abhängig. Auf diese Weise würden die Bürger des selb­stän­digen Han­delns ent­wöhnt und ver­lieren ihre Auto­nomie, auf welcher die liberale Demo­kratie, die mündige Bürger zur Vor­aus­setzung hat, gerade aufbaut.

Nicht jeder, der demo­kra­tisch gewählt wurde, ist des­wegen schon ein libe­raler Demokrat

Ent­scheidend, ob jemand sich tat­sächlich als libe­raler Demokrat bezeichnen kann, ist also nicht, ob jemand in einem demo­kra­ti­schen Prozess gewählt wurde, als vielmehr seine innere Ein­stellung. In der frei­heit­lichen Demo­kratie stehen die uni­ver­salen Men­schen­rechte, inklusive der Men­schen­würde (Selbst­be­stimmung), die Gewal­ten­teilung, das Rechts­staats- und das Demo­kra­tie­prinzip selbst über demo­kra­ti­schen Mehr­heits­ent­scheiden. Es ist also in der libe­ralen Demo­kratie nicht möglich, die Demo­kratie demo­kra­tisch abzu­wählen. Dadurch raubte man ja auch den kom­menden Gene­ra­tionen die Mög­lichkeit der Volks­sou­ve­rä­nität, der Selbstbestimmung.

Auch die Men­schen­rechte können in einer libe­ralen Demo­kratie nicht abge­schafft werden und zwar die Men­schen- und Frei­heits­rechte aller, nicht nur die des eigenen Volkes oder die der eigenen Person („Ich liebe meine Freiheit“ – Egoist). Es gibt zwar kein Men­schen­recht auf Migration, jeder Staat und jedes Volk kann mithin frei bestimmen, wen es in sein Staats­gebiet, das sein Eigentum ist, ein­reisen lässt und wen nicht, aber wer sich auf deut­schem Ter­ri­torium befindet, genießt zwar nicht die auto­ma­tisch die Bür­ger­rechte, wohl aber die uni­ver­salen Men­schen­rechte. Dazu gehört das Recht auf Leben, das Recht auf kör­per­liche Unver­sehrtheit, die Freiheit von Folter usw.

Die ethisch-mora­lische Über­le­genheit der libe­ralen Demokratie

Das heißt, die frei­heitlich-demo­kra­tische Grund­ordnung kann nicht demo­kra­tisch abge­wählt und durch zum Bei­spiel ein auto­ri­täres Füh­rer­prinzip, das keine uni­ver­salen Men­schen­rechte kennt, ersetzt werden. Wer das anstrebt und umsetzen möchte, ist ein Verfassungs‑, damit ein Staats­feind und darf, ja muss bekämpft werden. Aber selbst er, der Men­schen­rechte-abschaffen-Woller, ver­liert nicht die seinen. Bestimmte Rechte können ihm zeit­weise, solange er eine Gefahr dar­stellt, ent­zogen werden, aber er bleibt ein Mensch. Selbst er, der andere ent­mensch­lichen möchte, muss wei­terhin human behandelt werden.

Das gilt auch für Rechts­extre­misten (oder Isla­misten), die das abschaffen wollen und in anderen Men­schen bis­weilen nur das Hete­rogene sehen, welches die anvi­sierte Homo­ge­nität des Volkes (oder der Glau­bens­ge­mein­schaft) und damit seine bio­lo­gis­tisch defi­nierte (oder meta­phy­sisch-spe­ku­lativ-welt­an­schau­liche) Iden­tität gefährdet sehen. Hier zeigt sich die enorme ethisch-mora­lische Über­le­genheit der libe­ralen, men­schen­rechts­ba­sierten Demo­kratie, die sogar die Feinde der Men­schen­rechte als Men­schen sieht und behandelt, während diese mit ihren Feinden umge­kehrt ganz anders ver­fahren würden, so sie denn könnten (oder können wie in der Türkei oder im Iran).

Jeder Rechts­extre­mismus baut letztlich auf einem pri­mi­tiven Grup­pen­ego­ismus auf

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Und das ist zugleich der tiefere Grund, warum den Rechts­extre­misten so eine tiefe Ver­achtung von fast allen Seiten ent­gegen schlägt. Das hat mit den unter­schied­lichen Moralen zu tun, die den jewei­ligen Welt­an­schau­ungen zu Grunde liegen, die nicht auf einer Stufe stehen, sondern gewaltige Niveau­un­ter­schiede aufweisen.

Im Grunde hat der Rechts­extre­mismus über­haupt nicht so etwas wie eine ethisch auch nur irgendwie legi­ti­mierte Moral, die ver­all­ge­mei­nerbar wäre, also ein ethi­sches Prinzip, welches für alle gelten könnte. Bei Rechts­extre­misten baut ähnlich wie bei einem vor­mo­dernen Clan im Grunde alles auf einem reinen Grup­pen­ego­ismus auf: „Gut ist, was dem eigenen Volk (Clan) nutzt.“ Eine andere ethische Meta­regel kann ich hier zumindest nicht erkennen. Wenn das aber der höchste Grundsatz ist,„Gut ist, was dem eigenen Volk nutzt“, dann kann mit Volks­feinden im Innern ALLES gemacht werden. Alles (!), wenn es nur dem Volk dient.

Und außen­po­li­tisch ist damit der Krieg vor­pro­gram­miert. Der Krieg nicht zur Abwehr eines Angriffs, nicht um ein Unrechts­regime irgendwo zu stürzen, welches sein eigenes Volk mas­sa­kriert (also die Men­schen­rechte von hun­dert­tau­senden oder gar Mil­lionen Men­schen mit Füßen tritt), sondern der Krieg einfach zu dem Zweck, dem anderen weg­zu­nehmen, was man selbst haben möchte, siehe die Annexion der Krim durch Russland, wenn es nur dem eigenen Volk nutzt.

In einer frei­heit­lichen Demo­kratie genießen Min­der­heiten Schutz und sind nicht der Tyrannei der Mehrheit ausgeliefert

Die liberale Demo­kratie ist dagegen an uni­ver­salen Prin­zipien aus­ge­richtet, nicht an einem Grup­pen­ego­ismus. Das heißt natürlich nicht, dass eigene Inter­essen nicht legitim wären oder die Inter­essen anderer über den eigenen stünden. Aber die berech­tigten Inter­essen anderer dürfen eben nicht voll­kommen aus­ge­blendet werden oder nur insoweit Berück­sich­tigung finden, als sie wie­derum einem selbst nutzen (kluger, weit­sich­tiger Ego­ismus: eine Hand wäscht die andere – ich helfe jetzt dem anderen, weil er dann später auch mir helfen wird, so dass ich einen Vorteil davon habe. Ansonsten aber helfe ich keinem.)

In der libe­ralen (frei­heit­lichen) Demo­kratie stehen vor allen Dingen die Men­schen- und Bür­ger­rechte, die Gewal­ten­teilung, die Volks­sou­ve­rä­nität, das Rechts­staats­prinzip über dem demo­kra­ti­schen Mehr­heits­ent­scheid, über der Herr­schaft des Volkes, über der Tyrannei der Mehrheit. Das Volk kann in einer libe­ralen Demo­kratie also nicht Dinge beschließen, die den Grund­rechten wider­sprechen (Min­der­hei­ten­schutz), zum Bei­spiel die AfD ver­bieten, nur weil die weit über­wie­gende Mehrheit sie schrecklich und schädlich findet, oder den Kin­des­miss­brauch lega­li­sieren, wenn die Pädo­philen irgendwann in der Mehrheit wären, eine meta­phy­sisch spe­ku­lative Sekte könnte nicht beschließen, alle umzu­bringen, die sich ihr nicht anschließen, nur weil sie in der Mehrheit sind. Demo­kra­tisch wären solche Beschlüsse schon, wenn die Mehrheit es will, aber eben nicht liberal.


Jürgen Fritz — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog des Autors www.juergenfritz.com