Bil­der­sturm: Wie in Russland über die Zer­störung von Denk­mälern bei den Ras­sen­pro­testen berichtet wird

Die Unruhen in den USA und Demons­tra­tionen in Europa beschäf­tigen auch die rus­si­schen Medien. Aller­dings hat man dort eine völlig andere Sicht auf die Vor­gänge, ihre Hin­ter­gründe und mög­liche Folgen.

Am Sonntag waren die Vor­gänge im Westen wieder ein großes Thema in der Sendung „Nach­richten der Woche“. Unter anderem gab es dort einen langen Kom­mentar, der in zwei Teile auf­ge­teilt wurde, die ich beide über­setzt habe. Außerdem gab es auch einen Bericht aus den von Akti­visten besetzten Teilen von Seattle, den ich auch über­setzt habe.

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Dies ist der zweite Teil des Kom­mentars, die Über­setzung des ersten Teils finden Sie hier, die Über­setzung der Reportage finden Sie hier. Sie sind aber auch ver­ständlich, wenn man sie nicht nach­ein­ander oder einzeln liest.

Beginn der Übersetzung:

Bis in die Grund­festen: Wie die USA und Europa die Geschichte zerstören

Die Spre­cherin des US-Reprä­sen­tan­ten­hauses, Nancy Pelosi, hat die Ent­fernung von 11 Statuen aus dem Kapitol gefordert, dar­unter die von Jef­ferson Davis. Jef­ferson Davis wurde 1808 geboren und nach Thomas Jef­ferson benannt, dem Ver­fasser der Unab­hän­gig­keits­er­klärung, dem Grün­der­vater der Ver­ei­nigten Staaten und dem dritten Prä­si­denten des Landes. Jef­ferson Davis war ein talen­tierter Mensch, Staatsmann, Phi­losoph, einer der Titanen der Auf­klärung, aber eben auch Besitzer von Sklaven. Sein Denkmal in Washington ist noch nicht zer­stört, aber es wird wohl auch noch an die Reihe kommen. Es gibt ja kein Halten mehr.

So hat sich Nancy Pelosi gegen die Statue des Skla­ven­be­sitzers Jef­ferson Davis in der Halle des Kon­gresses aus­ge­sprochen: „Die Statuen müssen unsere höchsten Ideale ver­körpern, wer wir sind und wer wir als Land sein wollen. Statuen für die­je­nigen, die Grau­samkeit und Bar­barei um des über­trie­benen Ras­sismus willen ver­teidigt haben, sind ein Affront gegen diese Ideale. Die Statuen sollten ent­fernt werden“, erklärte Pelosi.

Wir sprechen über Statuen der Kon­fö­de­rierten. Jef­ferson Davis selbst war ein ziemlich libe­raler Skla­ven­be­sitzer. Der Ver­walter seiner Plan­tagen war ein Neger und Sklaven bepflanzten auch eigene, private Grund­stücke, deren Ernte ihr Eigentum war. Schließlich adop­tierten Jef­ferson Davis und seine Frau einen schwarzen Jungen, der gleich­be­rechtigt mit ihren Kindern auf­wuchs. Jef­ferson Davis, der vom Recht des Aus­tritts von Bun­des­staaten aus dem Verbund der USA Gebrauch gemacht hat, führte 1861 elf Staaten an, wurde zu ihrem Prä­si­denten gewählt und führte sie sechs Jahre lang als erster und ein­ziger Prä­si­denten der Kon­fö­de­rierten Staaten von Amerika. (Anm. d. Übers.: Das „N‑Wort wird in Russland noch benutzt, ich habe dazu am Ende des Artikel ein paar Worte geschrieben, damit Sie das ein­ordnen können)

Er wollte einen fried­lichen Aus­tritt, den Krieg begann der Norden. Prä­sident Abraham Lincoln hat nicht so sehr für die Gleich­be­rech­tigung der Schwarzen gekämpft – die gibt es in nicht in den Ver­ei­nigten Staaten bis heute nicht -, sondern für die Einheit des Landes. Es war ein Krieg gegen die ame­ri­ka­ni­schen Sepa­ra­tisten, der unter der Losung geführt wurde, das Eigen­tums­recht an Men­schen abschaffen zu wollen. Nach seinem Sieg for­derte Lincoln, auf Rache zu ver­zichten. Das blieb ungehört. Prä­sident Lincoln selbst wurde erschossen und die Ver­ei­nigten Staaten quellen bis heute über vor Rache.

Nancy Pelosis Initiative, die Statuen his­to­ri­scher Per­sön­lich­keiten aus den Hallen des Kon­gresses zu ent­fernen, ist Rache. Rache ist auch der Abriss von Statuen und Denk­mälern in ganz Amerika. In Richmond, Vir­ginia, wurde ein Denkmal für Jef­ferson Davis von Ran­da­lierern gestürzt. Eine Statue des Kom­man­deurs der Kon­fö­de­rierten Armee, General Lee, wurde von ihrem Sockel in Mont­gomery, Alabama, gerissen. Die Menge hat gejohlt und die vor­bei­fah­renden Autos haben zustimmend gehupt. In Bir­mingham, Alabama, wurde die Kup­fer­figur des Gründers der Stadt abge­rissen. Aber das war nicht genug. Der Bür­ger­meister von Bir­mingham führte eine Gruppe von Enthu­si­asten mit Spe­zi­al­aus­rüstung an und zer­störte einen Obelisk, so hoch, wie ein fünf­stö­ckiges Gebäude, der an die „Sol­daten und Matrosen der Kon­fö­de­ration“ erin­nerte. Schon früher wollte eine Initiative das 115 Jahre alte Denkmal per Gericht abschaffen, sie hat den Prozess aber ver­loren. Jetzt wurde es unter dem Recht der Revo­lution getan.

Eines der wich­tigsten Objekte der Rache ist Christoph Columbus. Der Dis­trict of Columbia, in dem sich die US-Haupt­stadt Washington befindet, wurde noch nicht umbe­nannt, die Columbia Uni­versity auch noch nicht, aber die Statuen von Columbus stürzen eine nach der anderen. Der Ent­decker Ame­rikas ist heute ein Symbol für Ras­sismus, Skla­verei und Völkermord.

Akti­visten haben Kolumbus in St. Paul, Min­nesota, gestürzt. In Richmond, Vir­ginia, wurde das Columbus Monument in Brand gesteckt und dann mit Seilen zu einem See gezogen und hin­ein­ge­worfen. In Boston, Mas­sa­chu­setts, wurde Columbus als Rache für die weiße Vor­herr­schaft enthauptet.

Der Hass ist so groß, dass ich mich nicht wundern würde, wenn das Weiße Haus eines Tages schwarz gestrichen wird. Warum sollte es denn bitte weiß sein? Ist das nicht eine Andeutung für irgendwas?

Ist das unmöglich? Ist es möglich, dass die Poli­zei­führung einer Stadt sym­bo­lisch schwarzen Akti­visten die Füße wäscht und vor ihnen kniet? (Anm. d. Übers.: Das ist geschehen und Bilder davon werden an dieser Stelle in dem Beitrag gezeigt)

Aber um auf die abge­ris­senen Denk­mälern zurück­zu­kommen: die Sockel stehen ja noch. Wer soll nun auf den Podest? Wenn, dann doch zu allererst die Führer der ame­ri­ka­ni­schen Indianer, weil sie die ersten waren, die sich den weißen Kolo­ni­sa­toren ent­ge­gen­stellten und große Ver­luste erlitten haben, während fast sie bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts gegen sie gekämpft haben, bis auch die letzten Über­le­benden in Reser­vaten waren. Das wäre fair, wenn wir das bis zu Ende denken.

Einen Platz auf so einem Sockel hätte zum Bei­spiel der Häuptling der Cho­conins Kochis ver­dient. Auf das Konto seines Stammes gehen bis zu 5.000 tote weiße Kolonisten.

Ein starker Kan­didat für einen Sockel wäre auch Sitting Bull, der Führer des Hunkpapa-Stammes. 1876 ver­sam­melte er eine Armee aus Che­yenne- und Sioux-Indianern und zer­schlug am im Little Bighorn Valley die Kaval­lerie von General George Custer. Custer selbst wurde ver­stümmelt und auf dem Schlachtfeld zurück­ge­lassen. In dieser Schlacht wurde Sitting Bull vom Furious Horse, dem Anführer des Glala-Stammes, unter­stützt. Er war gegenüber den Ein­dring­lingen unver­söhnlich und wurde heim­tü­ckisch getötet.

Auch ein anderer Führer des Stammes der Hunkpapa namens Gall, auch bekannt als Red Walker, ist eines Sockels würdig. Er verlor drei Kinder und zwei Frauen in der Schlacht am Little Bighorn.

Wie auch immer, wenn Denk­mäler gestürzt werden, werden sie durch neue ersetzt. So war es immer. Die Sockel bleiben nicht leer. Das gleiche Thema taucht in Europa auf, wo man in Groß­bri­tannien begonnen hat, die Idole der Ver­gan­genheit zu zer­stören, und diese Mode breitet sich nun auf dem Kon­tinent aus.

In London wurde das Denkmal für Robert Mil­ligan, einen Skla­ven­händler aus dem 18. Jahr­hundert, zuerst geschändet und dann sorg­fältig abgebaut. Die Figur stand dort mehr als 110 Jahre und wurde „als Zeichen des Genies und der Beharr­lichkeit von Robert Mil­ligan und in Erin­nerung an seine Leis­tungen errichtet“, wie man dort lesen konnte.

Robert Mil­ligans Leis­tungen waren die Führung der Firma West­Indies Company und hun­derter Sklaven auf Jamaikas Zucker­plan­tagen. Eigentlich nichts Beson­deres unter seinen Zeit­ge­nossen, den wohl­ha­benden Gen­tlemen. Das ist Groß­bri­tan­niens ganz normale kolo­niale Ver­gan­genheit. Aber wenn sich die Briten schon berufen fühlen, Denk­mäler der Kolo­ni­alzeit zu ent­fernen, warum dann nicht auch ein paar Dia­manten aus der Krone der jet­zigen eng­li­schen Königin Elizabeth II. ent­fernen? Schließlich ist sie auch eine Art Denkmal der kolo­nialen Ver­gan­genheit und damit des Skla­ven­handels und des Ras­sismus. Sollen sie den Bril­li­anten Cul­linan II. zum Bei­spiel an Süd­afrika zurück­geben und Kohinur an Indien. Ich denke, dass es dazu kommen wird, wenn die gegen­wärtige Gene­ration pro­gres­siver Unter­tanen Ihrer Majestät kon­se­quent ist.

Und was wird aus dem Gemälde von Rudyard Kipling, dem Dichter, der in „The White Man’s Burden“ die Herr­schaft des weißen Mannes in den über­see­ischen Ländern ver­herr­licht hat? Wie lange wird es noch in der National Por­trait Gallery in London hängen? Vor vier Jahren kam Kiplings Gemälde im Rahmen eines Aus­tau­sches mit der Tret­jokowa-Galerie nach Moskau. Das ist jetzt schwer vorstellbar.

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Während Kipling darauf wartet, dass ihm die Stunde schlägt, wurde Edward Colston, ein edler Gen­tleman des 18. Jahr­hun­derts, Abge­ord­neter und Skla­ven­händler, von seinem Sockel in Bristol entfernt.

Die wei­teren Pläne sind beein­dru­ckend. In Groß­bri­tannien wird jetzt eine Liste mit 60 his­to­ri­schen Per­sön­lich­keiten dis­ku­tiert, die von ihren Sockeln ent­fernt werden sollen. Unter ihnen sind zum Bei­spiel Admiral Nelson und der Gründer von De Beers, Cecil Rhodes. Queen Vic­toria wurde bereits geschändet. Ob sie sich wohl hätte vor­stellen können, dass sie jemals farbig sein würde? Chur­chill hält bisher noch mit letzter Kraft durch. Auf sein Denkmal wurde bereits besprüht: „War ein Rassist“. Der Name der – dank des Beatles-Songs – welt­be­rühmten Straße Penny Lane in Liverpool ist auch bereits schwarz übermalt worden. Schließlich war James Penny, nach dem die Straße benannt wurde, im 18. Jahr­hundert ein Skla­ven­händler. Alles wird in den Grund­festen erschüttert. Wir kennen das aus eigener Erfahrung nur zu gut. (Anm. d. Übers.: Russland ist in den letzten hundert Jahren zwei Mal – inklusive Bil­der­stürmen – zusam­men­ge­brochen: 1917 und 1991. Zumindest die kata­stro­phalen Folgen von 1991 und den fol­genden zehn Jahren, in denen im Land Gesetz­lo­sigkeit, Armut und das Recht des Stär­keren herrschten, ist für viele noch in „guter“ Erin­nerung)

Das Feuer fordert immer einen kul­tu­rellen Wandel. Aus dem Manifest „Schlag gegen öffent­lichen Geschmack“ von 1912 von einer Gruppe junger Dichter-Cubo­fu­tu­risten, dar­unter Maja­kowski, Chleb­nikow und Burljuk: „Nur wir sind das Gesicht unserer Zeit. Das Horn der Zeit trom­petet für uns in der gespro­chenen Kunst. Die Ver­gan­genheit engt ein. Die Aka­demie und Puschkin sind unver­ständ­licher, als Hie­ro­glyphen. Werfen Sie Puschkin, Dos­to­jewski, Tolstoi und andere aus dem Dampfer der Moderne. Wer seine erste Liebe nicht ver­gisst, wird die letzte nicht kennenlernen.“

Herzlich will­kommen in dem großen, sozialen Expe­riment. Uns erwartet noch viel Interessantes.

Ende der Übersetzung

Hier noch die ver­spro­chene Anmerkung zum „N‑Wort“: In Russland wird das „N‑Wort“ – neben poli­tisch kor­rekten Bezeich­nungen – noch benutzt und es gilt nicht als abwertend. Es wird klar unter­schieden zwi­schen „Neger“, was nicht abwertend benutzt wird und „Nigger“, was man in Russland zwar kennt, was aber nicht benutzt wird.

Als Über­setzer habe ich den Text so über­setzt, wie er geschrieben wurde. Die Sprach­verbote der Poli­tical Cor­rectness gibt es in Russland nicht.

Inter­essant am Rande: Bei Über­set­zungen lasse ich die Texte von einem Über­set­zungs­pro­gramm „vor­über­setzen“ und kor­ri­giere dann die Fehler. Das geht schneller, ansonsten würde ich nicht so viele Über­set­zungen ver­öf­fent­lichen können. Das „N‑Wort“ hat das Pro­gramm schlicht aus­ge­lassen, ohne es durch einen poli­tisch kor­rekten Begriff zu ersetzen)

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Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.


Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru