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Armut und wirt­schaft­liche Tur­bu­lenzen erschüttern Erdoğans Thron

Eine ver­hee­rende Wirt­schafts­krise in den Jahren 2000–2001, die schlimmste aller Zeiten in der modernen tür­ki­schen Geschichte, hat Mil­lionen Türken unter die Armuts­grenze getrieben. Im Jahr 2002 gingen Türken an die Wahlurne, um eine regie­rende Koalition von Main­stream-Par­teien zu bestrafen, und wählten Recep Tayyip Erdoğan zum Pre­mier­mi­nister. Durch eine ein­fache Wendung des Schicksals, fast zwei Jahr­zehnte später, scheint Erdoğans größter poli­ti­scher Rivale vor den Prä­si­dent­schafts­wahlen 2023 – Armut zu sein.

(von Burak Bekdil)

Das erste Jahr­zehnt der Herr­schaft Erdoğans brachte den Türken tat­sächlich rela­tiven Wohl­stand. Das Pro-Kopf-BIP stieg von 3.281 Euro im Jahr 2002 auf 10.495 Euro im Jahr 2012 stark an, was seine Popu­la­rität stei­gerte. Seit 2013 jedoch haben rück­sichtslose Vet­tern­wirt­schaft, zuneh­mender Auto­ri­ta­rismus, Kor­ruption und wirt­schaft­liche Miss­wirt­schaft die Zinsen, Inflation und Arbeits­lo­sigkeit in die Höhe getrieben und das Pro-Kopf-BIP auf geschätzte 6.673 Euro gesenkt.

Im Oktober lag die offi­zielle Infla­ti­onsrate der Türkei im Jah­res­ver­gleich bei 19,89 %. Unan­ge­neh­mer­weise hat eine unab­hängige Gruppe von Aka­de­mikern, ENAG, die annua­li­sierte Infla­ti­onsrate für den Monat Oktober mit 49,87 % gemessen.

Fast die Hälfte der tür­ki­schen Arbeiter sind Min­dest­lohn­emp­fänger, was bedeutet, dass Mil­lionen von Familien von etwa 207 Euro im Monat leben müssen.

Als die tür­kische Lira Mitte 2017 zu einem Kurs von 3,5 zu 1 gegen US-Dollar gehandelt wurde, riet Erdoğan den Türken, ihre Fremd­wäh­rungen zu ver­kaufen und in die Lan­des­währung zu inves­tieren. Leider befindet sich die Lira seit Anfang 2018 auf­grund stän­diger geo­po­li­ti­scher Span­nungen mit dem Westen, zuneh­mender Leis­tungs­bi­lanz­de­fizite, schrump­fender Devi­sen­re­serven und stei­gender Staats­ver­schuldung auf einem Abwärtstrend.

Erdoğan, der aggressive Zins­sen­kungen befür­wortet, hat in etwa zwei Jahren drei Zen­tral­di­rek­toren ent­lassen. Seit Sep­tember hat er die Zen­tralbank zu drei Zins­sen­kungen gedrängt, zuletzt Mitte November. Er hatte viel­leicht gehofft, dass nied­rigere Zinsen Arbeits­plätze, Exporte und Wachstum ankurbeln würden – eine Wun­der­mi­schung aus Wirt­schafts­aus­sichten, die ihm 2023 Stimmen ein­bringen sollte.

Zum Zeit­punkt des Schreibens dieses Textes war die tür­kische Lira auf ein Rekordtief von 13,88 pro Dollar abge­stürzt – weit jen­seits von dem, was noch einen Monat zuvor als psy­cho­lo­gische Bar­riere von 11 Lira pro US-Dollar galt. Innerhalb von vier­einhalb Jahren schoss der Wert des Dollars gegenüber der Lira von 3,5 auf 13,88 in die Höhe, trotz Erdoğans Rat­schlag, in die tür­kische Währung zu inves­tieren. Allein in diesem Jahr hat die Lira gegenüber dem Dollar über 42 % ihres Wertes ver­loren und ist damit die schwächste Währung der Welt. Am 23. November, als die Märkte in Aufruhr waren, stellte Apple den Verkauf fast aller seiner Pro­dukte in der Türkei ein.

Da die Lira auf wahn­sinnige his­to­rische Tiefst­stände abstürzt, werden auch die lokalen Gehälter stark abge­wertet. Heute kann sich ein tür­ki­scher Min­dest­lohn­emp­fänger mit seinem Monats­gehalt 64 kleine Dosen Bier leisten.

Türken sagen, Haus­halts­budgets und Zukunfts­pläne seien in Aufruhr. Unter­nehmen ergeht es nicht besser. Ende August 2021 belief sich der Fremd­wäh­rungs­schul­den­be­stand des Pri­vat­sektors auf 154 Mrd. Euro. Seit Anfang des Jahres ist dieser Schul­den­be­stand in Lira um über 42 % gestiegen, wodurch Tau­sende von Unter­nehmen poten­ziell zah­lungs­un­fähig werden.

Die Türken, dar­unter auch Erdoğans einst treue Anhänger, sind wütend. Am 23. November for­derten Pro­teste in Istanbul und der Haupt­stadt Ankara ein Ende der Politik, die den Wirt­schafts­ein­bruch ver­ur­sacht und in diesem Jahr zu einer Infla­ti­ons­spirale und dem Absturz der Lira geführt hat. Als die Demons­tranten ihrer Wut gegen die Regierung Erdoğan Luft machten, musste in Teilen Istanbuls die Polizei Absper­rungen errichten.

Die wirt­schaft­lichen Tur­bu­lenzen sind eine exis­ten­zielle Bedrohung für Erdogans Griff an der Macht. Die For­schung zeigt, wie wichtig für die Türken, wie wahr­scheinlich für alle Wähler, Brot-und-Butter-Themen sind. Das Mei­nungs­for­schungs­in­stitut Optimar stellte fest, dass 63,8% der Türken ihr größtes Problem in der Wirt­schaft und Arbeits­lo­sigkeit sehen. Optimar fand auch heraus, dass nur 27,8% der Türken glauben, dass Erdoğan ihre drän­genden wirt­schaft­lichen Pro­bleme lösen kann.

Was kann Erdoğan tun? Er scheint nicht allzu viele Mög­lich­keiten zu haben. Er könnte auf­hören, die Markt­kräfte her­aus­zu­fordern und seine Zins­po­litik durch Zins­er­hö­hungen umkehren, was dann mit wei­teren Kosten vor den Wahlen ver­bunden ist: einer wirt­schaft­lichen Ver­lang­samung. Er ver­sucht, die Tresore reicher Freunde wie Katar für Geld­spritzen und Inves­ti­tionen anzu­zapfen. Das wäre zumindest eine vor­über­ge­hende Erleich­terung für eine Wirt­schaft, die unter fun­da­men­talen Ungleich­ge­wichten leidet.

Erdoğan wird schnell Opfer seiner eigenen Fehl­ein­schät­zungen: einer dra­ma­tisch schlecht geführten Wirt­schaft und geo­stra­te­gi­schen Her­aus­for­de­rungen, die die poli­tische und mili­tä­rische Macht der Türkei überstiegen.

Viel­leicht sind diese Fehl­tritte der Anfang vom Ende von Erdoğans häss­lichem Popu­lismus – seinen neo­os­ma­ni­schen Ambi­tionen, die der tür­ki­schen Wirt­schaft und der inter­na­tio­nalen Repu­tation des Landes großen Schaden zugefügt haben.

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Burak Bekdil, einer der füh­renden Jour­na­listen der Türkei, wurde kürzlich nach 29 Jahren von der bekann­testen Zeitung des Landes ent­lassen, weil er in Gatestone über die Gescheh­nisse in der Türkei geschrieben hatte. Er ist Fellow des Middle East Forum.


Quelle: sciencefiles.org