Bild: Geert Wilders, wikimedia commons, DAvid Sedlecky, CC BY-SA 4.0 DEED

Vera Lengsfeld: Lehren aus der Wahl in den Niederlanden

Die nächsten großen Wahlen in Deutschland werden die Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament am 9. Juni 2024 sein – das ist noch über sechs Monate hin. Es wird eine Schick­salswahl für den wei­teren Kurs in Europa und Deutschland.

(von Philipp Lengsfeld und Vera Lengsfeld)

Ein Blick auf die Wahlen in den Nie­der­landen schärft den Blick für das, was hier noch möglich und damit nötig ist: Sechs Monate sind in Umbruchs­zeiten eine halbe Ewigkeit:

Hier einige stra­te­gisch-tak­tische Lehren:

  • Es ist noch genug Zeit in Deutschland ein neues Angebot für Europa aufzustellen
  • Nicht nur in Deutschland ist geistige Trägheit und die Unfä­higkeit zur zeit­nahen Ent­scheidung ein echter Hemmschuh
  • Popu­lis­tische Kli­en­tel­rhe­torik ist erfolg­reich, aber hat klare Grenzen und schädigt die Mehrheitsfähigkeit
  • Linksgrün ist eine Min­derheit von 15% der Wäh­le­rinnen und Wähler
  • Es gibt liberal-kon­ser­vative Mehr­heiten in den west­lichen Demo­kratien, die gezogen werden können und müssen

Kurzum, es gibt keine Ausreden!

Auch drei Monate sind eine Ewigkeit

Pieter Omtzigt hat mit seiner erst wenige Monate alten Neu­gründung Nieuw Sociaal Con­tract (NSC, Neuer Gesell­schafts­vertrag) mit liberal-kon­ser­va­tiven Ansatz aus dem Stand fast 13% der Stimmen geholt. Das Mar­ken­zeichen des Poli­tikers, der ursprünglich aus der VVD des Pre­miers Mark Rutte stammt (prak­tisch das hol­län­dische CDU-Pendant), ist die Reform der Ver­waltung und die Stärkung des Par­la­ments gegenüber der Regierung.

Lehre #1: Es ist erst zu spät, wenn der Schieds­richter pfeift:

Eine Trennung von einer kon­ser­va­tiven Volks­partei kann sehr erfolg­reich sein, auch noch ganz kurz vor der Wahl. Ent­scheidend ist, ob den Wäh­le­rinnen und Wählern ein stra­te­gisch und per­sonell über­zeu­gendes Angebot gemacht wird – wir sollten jeg­liche State­ments, die in Deutschland behaupten für eine erfolg­reiche Auf­stellung für Europa im Juni 2024 sei es jetzt schon prak­tisch zu spät als das bezeichnen, was sie sind: Falsch und destruktiv.

Geistige Trägheit ist eine Sünde

Und das ist wie­derum deutlich: Zwar war die last minute Kam­pagne von Pieter Omtzigt und der NSC möglich und erfolg­reich, aber es war wohl deutlich mehr als Platz 4 erreichbar – sein langes Zögern hat Pieter Omtzigt wohl einen noch viel grö­ßeren Wahlsieg gekostet.

Lehre #2: Geistige Trägheit und Angst vor dem Springen hilft nur dem poli­ti­schen Gegner. Wenn eine Analyse richtig ist, gilt es zu handeln und nicht noch mal ewig und drei Tage abzu­warten. Leute, die behaupten, es müsste mit dem gesell­schaft­lichen Auf­bruch noch auf irgendwen oder irgendwas gewartet werden liegen falsch und spielen bewusst oder unbe­wusst das Spiel des poli­ti­schen Establishments.

Klarer Kurs wird lang­fristig honoriert

Die Wahl gewonnen hat Geert Wilders. Sein kon­se­quenter Kurs gegen die völlig ver­korkste euro­päische und auch hol­län­dische Migra­ti­ons­po­litik hat sich schluss­endlich aus­ge­zahlt. Und das trotz hef­tigster Gegenwehr des poli­ti­schen Establishments.

Lehre #3: Die Wäh­le­rinnen und Wähler hono­rieren einen kon­se­quenten und pro­blem­be­zo­genen Kurs. Und kein poli­ti­sches Estab­lishment kann es sich leisten, auf Dauer Pro­blem­kreise zu tabui­sieren und poli­tische Gegner durch Stig­ma­ti­sierung klein halten zu wollen.

Popu­lismus und gesell­schaft­liche Spaltung kostet Mehrheitsfähigkeit

Wahl­sieger Geert Wilders hat ein großes Problem mit seiner popu­lis­ti­schen Posi­tio­nierung. Geert Wilders hat nicht nur völlig zu Recht die links­west­liche Migra­ti­ons­po­litik ange­prangert, sondern hat diese Bot­schaft mit harter, pau­schaler Islam­kritik ver­bunden. War dies viel­leicht im Schüt­zen­graben der Stig­ma­ti­sierung ver­ständlich oder nach­voll­ziehbar (und eine popu­lis­tische Zuspitzung ist letztlich ein­facher zu kom­mu­ni­zieren), so kurz­sichtig war dies im Blick auf die Regie­rungs­ver­ant­wortung – weder Holland noch irgendein anderes west­liches Land kann sich ein pau­schales Ablehnen des Islam oder gar der mit mus­li­mi­schen Hin­ter­grund aus diversen Ländern und Welt­teilen ein­ge­wan­derten Men­schen leisten. Und dies ist auch mit einem frei­heitlich-demo­kra­ti­schen Gesell­schafts- und Men­schenbild nicht ver­einbar. Es wird für Wilders und die PVV nicht einfach werden hier eine demo­kra­tisch über­zeu­gende Kurve zu bekommen.

Lehre #4: Jeder Demokrat muss zu jedem Zeit­punkt immer so agieren, als ob er oder sie am nächsten Tag die Ver­ant­wortung für das Land tragen muss – denn das kann mitt­ler­weile sofort pas­sieren. Popu­lis­tische Zuspitzung, Stig­ma­ti­sierung und Spaltung der Gesell­schaft ist dabei nichts, was in einer freien, demo­kra­ti­schen Gesell­schaft mehr­heits­fähig macht. Eine Ent­scheidung, die jeder poli­tische Akteur für sich immer und immer wieder fällen muss, egal wie massiv und unfair die Angriffe von Seiten des Estab­lish­ments sind.

Linksgrün ist eine klare gesell­schaft­liche Minderheit

Frans Tim­mermans, der EU-Kom­missar, der die Haupt­ver­ant­wortung für den grün-linken Kurs der EU der jün­geren Ver­gan­genheit trägt hat mit einem Bündnis aus grünen und sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Kräften, das kon­se­quent auch „Grün­links“ im Namen trägt (GL-PvdA) mit 15.5% einen respek­tablen zweiten Platz errungen. Ähnlich wie bei Wilders gou­tiert hier das Kern­kli­entel wohl auch die ideo­lo­gische Klarheit.

Lehre #5: Die links­grünen Kräfte, die die letzten Jahr­zehnte Europa domi­niert haben, sind eine Min­derheit von 15% der Wäh­ler­stimmen. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Damit muss man umgehen, aber damit muss man eben auch umgehen, siehe Lehre 6 und 7.

Volks­par­teien der demo­kra­ti­schen Mitte müssen von Linksgrün-Kurs runter

Mark Rutte muss man sich wohl als eine Art hol­län­dische Angela Merkel vor­stellen, nur mit weniger Fortune und weniger Gespür für den rich­tigen Moment des Abgangs. Seine VVD erlitt knapp 7 Pro­zent­punkte Ver­luste und liegt mit 15.1% zwar vor der NSC ist aber als Partei des amtie­renden Regie­rungs­chefs und seiner Regie­rungs­ko­alition der glas­klare Wahlverlierer.

Lehre #6: Eine Volks­partei der rechten Mitte muss sich vom links­grünen Kurs ver­ab­schieden. Offenbar muss es solche Partei aber erst durch ein Tal der Tränen gehen, bis die rich­tigen Schluss­fol­ge­rungen gezogen werden. Oder geht es auch anders? Es bleibt abzu­warten, was Merz/Linnemann/Söder aus dem Ein­bruch der VVD für Schluss­fol­ge­rungen ziehen. Auch hier ist es wohl noch nicht zu spät, siehe Lehre #7.

Es gibt eine gesell­schaft­liche und par­la­men­ta­rische Mehrheit für die Zeitenwende

Lehre #7: Es gibt eine kom­for­table nicht-linke Mehrheit in den west­eu­ro­päi­schen Demo­kratien: PVV, VVD und NSC kommen zusammen auf eine klare Mehrheit im Par­lament (>51%). Es wird in den Nie­der­landen kei­nerlei Recht­fer­tigung mehr für links­grüne Politik a la Tim­mermans geben (außer in den Fällen, wo sie sachlich gut begründet und gerecht­fertigt ist). Es sollte nie ver­gessen werden, dass es das Scheitern genau dieser Politik war, die uns an den Punkt gebracht hat, wo wir jetzt stehen.

Nachtrag Philipp Lengsfeld

Meine Lehre: Es gibt für den Euro­pa­wahl­kampf 2024 keine Ausreden:

https://lengsfeld-mitte.de/europawahl

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Quellen:

Zur NSC

Der Anti-Rutte Pieter Omtzigt wird zum Hoff­nungs­träger der Nie­der­lande (handelsblatt.com)

Zur PVV:

https://www.zeit.de/politik/ausland/2017–02/geert-wilders-niederlande-rechtspopulist-wahlkampf-nazi-vergleiche

VVD:

Nie­der­lande: Rutte kündigt über­ra­schend Politik-Rückzug an | tagesschau.de


Vera Lengsfeld — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog der Autorin www.vera-lengsfeld.de