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“Wenn es in Deutschland keine Sozi­al­hilfe gibt, werde ich schon morgen nach Aleppo zurückkehren”

Einer, der im ersten Interview sagte, er sei einzig wegen der Demo­kratie nach Deutschland gekommen, sagte einige Wochen später im Grup­pen­ge­spräch: „Ehrlich gesagt, wenn es für mich in Deutschland keine Sozi­al­hilfe gibt, werde ich schon morgen nach Aleppo zurückkehren.“
(Von Hamed Abdel-Samad)
Früher war die For­schung eine Auto­rität. Die Ergeb­nisse wis­sen­schaft­licher Studien wurden in der Regel von der Bevöl­kerung akzep­tiert, und die Medien hatten die Aufgabe, die Wis­sen­schaft für das Volk durch Ver­ein­fa­chung zugäng­licher zu machen. Nur Wis­sen­schaftler, die ähn­liche Qua­li­fi­ka­tionen wie die Ver­fasser einer Studie hatten, waren imstande, deren Ergeb­nisse anzu­fechten oder zu kor­ri­gieren. Heute ent­wi­ckelt sich die Wis­sen­schaft immer mehr zu einer Glau­bens­sache, vor allem wenn es um drei Themen geht: Islam, Migration und Kli­ma­wandel. Je nachdem, was man selbst glaubt oder erwartet, werden Studien her­an­ge­zogen, die die eigene Sicht bestätigen.
Diese „con­fir­mation bias“ prägt seit Jahren auch die Inte­gra­ti­ons­de­batte. Und durch das Auf­kommen der neuen Medien, bei denen man sich aus­schließlich in „Echo­kammern“ bewegen kann, die die eigene Meinung unter­stützen, hat sich das noch einmal ver­stärkt. Als Laie findet man sich kaum zurecht in diesem Dickicht aus Studien, die mal dem eigenen Bauch­gefühl oder den per­sön­lichen Erfah­rungen ent­sprechen, mal etwas ganz anderes präsentieren.
Die Medien spielen längst nicht mehr nur die Rolle des Ver­mittlers, sondern oft die des Schieds­richters. Sie ordnen ein und bewerten und scheuen sich auch nicht, den mora­li­schen Zei­ge­finger zu erheben. Dazu kommt – ich erwähnte es bereits in der Ein­leitung –, dass viele Studien zum Thema Inte­gration ein­ander wider­sprechen. Während die eine davon ausgeht, dass die Mehrheit der Muslime die Scharia höher schätzt als das Grund­gesetz, behauptet die andere, Muslime seien mehr­heitlich Verfassungspatrioten.
So kommt eine Studie der Uni­ver­sität Münster aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „Inte­gration und Religion aus der Sicht von Tür­kei­stäm­migen in Deutschland“ zu dem Ergebnis, dass fast ein Drittel der hier lebenden Men­schen mit tür­ki­schen Wurzeln der Aussage zustimmen, Muslime sollten die Rückkehr zu einer Gesell­schafts­ordnung wie zu Zeiten des Pro­pheten Mohamed anstreben. Der Aussage „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wich­tiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe“ stimmen sogar 47 Prozent der Befragten zu. 36 Prozent sind darüber hinaus über­zeugt, dass nur der Islam in der Lage sei, die Pro­bleme unserer Zeit zu lösen.
Nach Aussage der Müns­te­raner For­scher haben jene Befragten, die allen drei Aus­sagen zustimmten, ein „umfas­sendes und ver­fes­tigtes isla­misch-fun­da­men­ta­lis­ti­sches Weltbild“. Ihr Anteil liegt bei 13 Prozent. 86 Prozent der Mit­glieder der zweiten und dritten Gene­ration denken laut Studie, man solle selbst­be­wusst zur eigenen Her­kunft stehen; eine Aussage, der unter den Befragten der ersten Gene­ration inter­es­san­ter­weise nur 67 Prozent zustimmten.
Ein Erfolg, dem die Sta­tis­tiken widersprechen
Auf der anderen Seite kommt jene Studie der Ber­telsmann Stiftung aus dem Jahr 2017 zu dem Ergebnis, dass 96 Prozent der hier lebenden Muslime eine tiefe Ver­bun­denheit zu Deutschland ver­spürten. Sie würden sich hier nicht nur wohl­fühlen, sondern seien auch auf dem Arbeits­markt inte­griert. Rund 60 Prozent würden in Vollzeit arbeiten, 20 Prozent in Teilzeit, die Erwerbs­lo­sen­quote gleiche sich jener der „Bio­deut­schen“ an. Damit stehe Deutschland – ver­glichen mit der Schweiz, Öster­reich, Frank­reich und Groß­bri­tannien – hin­sichtlich der gelun­genen Arbeits­markt­in­te­gration an der Spitze.
Das wäre ein großer Erfolg, würden nicht die neu­esten ver­füg­baren Sta­tis­tiken der Bun­des­agentur für Arbeit wieder anderes ver­melden. Demnach war im Dezember 2016 der Anteil von Per­sonen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund unter den Arbeits­losen mit 43 Prozent über­pro­por­tional hoch. Unter den 4,3 Mil­lionen „erwerbs­fä­higen Leis­tungs­be­rech­tigten“ – dazu zählen zum Bei­spiel auch Hartz-IV-Auf­stocker – liegt der Anteil der Per­sonen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund noch höher, nämlich bei 52,6 Prozent. Zur Ein­ordnung: Der Bevöl­ke­rungs­anteil der Muslime ins­gesamt liegt bei lediglich rund sechs Prozent.
Die Dis­krepanz zwi­schen den unter­schied­lichen Ergeb­nissen dieser Studien und die ein­gangs erwähnte Kritik an ihnen (etwa die Kon­zen­tration auf nur einen Aspekt, wie etwa den Arbeits­markt, und die Aus­klam­merung wich­tiger Bereiche wie Fragen zu Fun­da­men­ta­lismus, Sexua­lität, Gleich­be­rech­tigung etc.) zeigen ein grund­le­gendes Problem der Empirie, vor allem wenn es um emo­tionale Themen geht. Und kaum etwas ist emo­tional auf­ge­la­dener als Integration.
Das Schicksal der Fragebögen
Als ich vor 15 Jahren eine Studie über die Radi­ka­li­sierung von jungen Mus­limen in der Fremde machen wollte, begann ich damit, Fra­ge­bögen an ara­bische Stu­denten und Kinder der zweiten Gene­ration von Migranten in Deutschland und Frank­reich zu ver­teilen. Auf den Bögen standen Fragen zum Grad der Reli­gio­sität, zu west­lichen Werten, der Scharia, Geschlech­ter­rollen, Dis­kri­mi­nierung, Dschihad und Kalifat. Beim Sichten der Ant­worten wurde mir klar, dass sie die Rea­lität nicht wirklich abbil­deten. Erstens hatten längst nicht alle, denen ich die Fra­ge­bögen geschickt hatte, darauf geant­wortet. Nicht weil sie keine Zeit gehabt hätten, sondern weil sie die Motive meiner Studie infrage stellten.
Ihre Skepsis galt allen For­schern, die zum Thema Islam arbei­teten. Es war kurz nach dem 11. Sep­tember, und unter den Mus­limen herrschte große Ver­un­si­cherung. Einige hatten Angst, dass die Studie in Wirk­lichkeit im Auftrag der Geheim­dienste durch­ge­führt würde und dass sie in einen Kon­flikt mit der Justiz geraten könnten, wenn sie ihre wahre Ein­stellung offen­baren würden. Zweitens hatten jene, die man tat­sächlich als Fana­tiker hätte bezeichnen können, kein Interesse daran, ihre Ansichten zu arti­ku­lieren und zu Papier zu bringen. Und so blieben drittens am Ende die welt­of­fenen Muslime, die nichts zu ver­bergen hatten, und die­je­nigen, die die Fragen eher „vor­sichtig“ beant­wor­teten. Mit anderen Worten: Das, was nicht gesagt worden war, war deutlich mehr als das, was ich schließlich in Händen hielt.
Ich hätte dennoch die Fra­ge­bögen nach den üblichen Stan­dards der Feld­for­schung aus­werten und die Studie ver­öf­fent­lichen können, und sie wäre wis­sen­schaftlich ein­wandfrei gewesen. Die Studie hätte das durch den Anschlag auf das World Trade Center reichlich ange­kratzte Image der Muslime in Deutschland viel­leicht ein wenig ver­bessert, aber die wahre Stim­mungslage hätte sie nicht abge­bildet. Zu viel war nicht gesagt worden.
Also ent­schied ich mich, in Zukunft auf Fra­ge­bögen zu ver­zichten und statt­dessen das Gespräch direkt zu suchen. Das ist mit­unter etwas mühsam, denn es dauert, ein Ver­trau­ens­ver­hältnis zu den Inter­view­partnern zu ent­wi­ckeln und in ihre Gedan­kenwelt vor­zu­dringen. Viele wussten zu Beginn unserer Gespräche oft nicht, wo sie stehen. Erst im Laufe der Zeit haben sie ihre Position defi­nieren oder prä­zi­sieren können. Das merkte ich auch daran, dass ich bei den erneuten Treffen „alte“ Fragen noch einmal stellte. Bei vielen ent­deckte ich Unter­schiede zwi­schen den frü­heren und den spä­teren Aus­sagen. Die spä­teren Aus­sagen waren häufig weniger konform oder erwartbar, sie offen­barten eher eine kri­tische Haltung, teils auch eine radikalere.
Am Anfang stehen Lobeshymnen
Auch für dieses Buch führte ich zahl­reiche Inter­views nicht nur mit Migranten, sondern auch mit Flücht­lingen aus dem Irak und aus Syrien. Da sie aus Poli­zei­staaten kommen, in denen die Men­schen ständig von den Geheim­diensten beob­achtet werden, hatten viele von ihnen Angst, dass ihre Aus­sagen Ein­fluss auf ihr Asyl­ver­fahren haben könnten. Deshalb begannen sie unsere Gespräche oft mit einer Lobes­hymne auf Deutschland, die Kanz­lerin und die großen Errun­gen­schaften der Demo­kratie und der Freiheit. Erst als ihnen klar wurde, dass sie keine Repres­salien zu befürchten haben und ich ihre Äuße­rungen nur für mein Buch ver­wenden würde, wurden sie mutiger und erzählten offener von ihren Schwie­rig­keiten und ihren Ein­stel­lungen. Auch hier gab es eine Ent­wicklung von Gespräch zu Gespräch. Einer, der im ersten Interview sagte, er sei einzig wegen der Demo­kratie nach Deutschland gekommen, sagte einige Wochen später im Grup­pen­ge­spräch: „Ehrlich gesagt, wenn es für mich in Deutschland keine Sozi­al­hilfe gibt, werde ich schon morgen nach Aleppo zurückkehren.“
Den zweiten Teil lesen Sie hier.
Auszug aus dem Buch Inte­gration. Ein Pro­tokoll des Schei­terns von Hamed Abdel-Samad. Droemer Verlag, München 2018, 272 Seiten, 19,99 Euro
 


Hamed Abdel-Samad für TheEuropean.de