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Die Euro­päische Union: Ein auto­ri­tärer Körper mit einem huma­ni­tären Gesicht

Der Vertrag von Lis­sabon — als Ersatz für den Ver­fas­sungs­vertrag von 2005 ent­worfen und 2007 von den Staats- und Regie­rungs­chefs der 27 Mit­glied­staaten der Euro­päi­schen Union unter­zeichnet — beschreibt sich selbst als eine Ver­ein­barung zur “Reform der Funk­ti­ons­weise der Euro­päi­schen Union… Huma­nitäre Hilfe wird als spe­zi­fische Zustän­digkeit der Kom­mission ausgewiesen.”
Was der Vertrag von Lis­sabon jedoch tat­sächlich geschaffen hat, war ein auto­ri­täres poli­ti­sches System, das die Men­schen­rechte und die poli­ti­schen Rechte verletzt.
Nehmen wir zum Bei­spiel das Mandat der Euro­päi­schen Kom­mission (EC). Gemäß Artikel 17 des Vertrags:
“Die Kom­mission fördert das all­ge­meine Interesse der Union… In der Aus­übung ihrer Auf­gaben ist die Kom­mission völlig unab­hängig… die Mit­glieder der Kom­mission dürfen keine Anwei­sungen von einer Regierung oder einem anderen Organ, einer Ein­richtung, einer Kör­per­schaft, einem Amt oder einer Ein­richtung ein­holen oder entgegennehmen…”
Dann gibt es Artikel 4, in dem es teil­weise heißt:
“…Die Mit­glied­staaten erleichtern die Erfüllung der Auf­gaben der Union und unter­lassen alle Maß­nahmen, die die Errei­chung der Ziele der Union gefährden könnten.”
Mit anderen Worten, die Inter­essen der Union stehen über den Inter­essen der ein­zelnen Staaten und Bürger. Das ist keine reine Spe­ku­lation. Der Prä­sident der Euro­päi­schen Kom­mission, Jean-Claude Juncker, erklärte 2016 offen:
“Zu viele Poli­tiker hören aus­schließlich auf ihre nationale Meinung. Und wenn Sie auf Ihre nationale Meinung hören, ent­wi­ckeln Sie nicht das, was ein gesunder euro­päi­scher Men­schen­ver­stand und ein Gefühl der Not­wen­digkeit, Anstren­gungen zu unter­nehmen, sein sollte. Wir haben zu viele Teilzeit-Europäer.”
Im selben Jahr gab Emmanuel Macron — damals fran­zö­si­scher Wirt­schafts­mi­nister — dem Time Magazine ein Interview, in welchem er vor dem bevor­ste­henden Brexit-Refe­rendum in Groß­bri­tannien warnte, indem er argumentierte:
“Man könnte ganz plötzlich eine Reihe von Ländern auf­wachen sehen, die sagen: ‘Ich will den gleichen Status wie die Briten’, was de facto die Demontage des rest­lichen Europas sein wird. Wir sollten nicht die Situation wie­der­holen, dass ein Land in der Lage ist, den Rest Europas zu kapern, weil es ein Refe­rendum organisiert.”
Macrons Haltung spiegelt sich im Vertrag von Lis­sabon wider, der den Mit­glied­staaten Vor­schriften auf­erlegt, um sicher­zu­stellen, dass sie die von der Euro­päi­schen Kom­mission fest­ge­legten Auf­gaben erfüllen.
In diesem Zusam­menhang ist her­vor­zu­heben, dass das Wort “Ver­ant­wortung” von den 36 Mal, die das Wort “Ver­ant­wortung” im Vertrag vor­kommt, sich nur einmal auf eine Ver­pflichtung der Kom­mission bezieht, nämlich dass sie “als Organ dem Euro­päi­schen Par­lament gegenüber ver­ant­wortlich ist”. Die anderen 35 Mal beziehen sie sich auf die Ver­pflich­tungen der Mitgliedsstaaten.
In einem demo­kra­ti­schen System mit einem gesunden Macht­gleich­ge­wicht kann eine regie­rende Koalition ange­fochten oder durch die Oppo­sition ersetzt werden. Genau das fehlt in der EU, denn der Vertrag von Lis­sabon ver­langt, dass die Mit­glieder der Euro­päi­schen Kom­mission auf der Grundlage ihres “euro­päi­schen Enga­ge­ments” aus­ge­wählt werden. Das bedeutet effektiv, dass jeder, der eine abwei­chende Meinung hat, niemals Mit­glied der Kom­mission werden darf — etwas Unheim­liches, das an den Kom­mu­nismus erinnert. So schreibt bei­spiels­weise Artikel 4 der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Ver­fassung von 1960 vor:
“Die füh­rende Kraft in der Gesell­schaft und im Staat ist die Avant­garde der Arbei­ter­klasse, die Kom­mu­nis­tische Partei der Tsche­cho­slo­wakei, eine frei­willige Kampf­union der aktivsten und kennt­nis­reichsten Bürger aus den Reihen der Arbeiter, Bauern und Intelligenzija.”
Artikel 11 der nord­ko­rea­ni­schen Ver­fassung enthält eine ähn­liche Direktive:
“Die Demo­kra­tische Volks­re­publik Korea wird alle Akti­vi­täten unter der Führung der Arbei­ter­partei Koreas durchführen.”
Wie die Geschichte immer wieder zeigt, geht dort, wo es keine Oppo­sition gibt, die Freiheit verloren.
In seinem Buch Demo­kratie in Amerika von 1840 schrieb der renom­mierte fran­zö­sische Diplomat und His­to­riker Alexis de Toc­que­ville:
“.…Wenn sich der Des­po­tismus in den heu­tigen demo­kra­ti­schen Nationen eta­blieren würde, hätte er wahr­scheinlich einen anderen Cha­rakter. Er wäre umfang­reicher und milder, und er würde Men­schen ernied­rigen, ohne sie zu quälen…”
“Der Sou­verän, nachdem er ein­zelne Indi­viduen einen nach dem anderen in seine mäch­tigen Hände nimmt und sie nach seinem Geschmack knetet, strebt danach, die Gesell­schaft als Ganzes zu umgreifen. Über sie ver­teilt er ein feines Netz von ein­heit­lichen, win­zigen und kom­plexen Regeln, durch die nicht einmal die ori­gi­nellsten Denker und die kräf­tigsten Seelen ihre Köpfe über die Menge erheben können. Er bricht nicht den Willen der Men­schen, sondern weicht sie auf, beugt und führt sie. Er zwingt selten jemanden zum Handeln, lehnt aber kon­se­quent das Handeln ab. Er zer­stört die Dinge nicht, sondern ver­hindert, dass sie ent­stehen. Anstatt zu tyran­ni­sieren, hemmt, unter­drückt, saugt, erstickt und bla­miert er, und am Ende redu­ziert er jede Nation auf nichts als eine Herde schüch­terner und flei­ßiger Tiere, mit der Regierung als ihrem Hirten…”
De Toc­que­ville hat diese Sätze vor fast zwei vollen Jahr­hun­derten ver­fasst, doch sie könnten leicht — und auf beängs­ti­gende Weise — auf das heutige Europa ange­wendet werden.


Dr. Jiří Payne ist ein tsche­chi­sches kon­ser­va­tives Mit­glied des Euro­päi­schen Par­la­ments und der Gruppe Europa der Freiheit und der direkten Demo­kratie. Er ist ehe­ma­liges Mit­glied der Abge­ord­ne­ten­kammer der Tsche­chi­schen Republik (1993–2002) und Mit­be­gründer und Mit­vor­sit­zender der Freunde von Judäa und Samaria im Euro­päi­schen Par­lament. Er ist Mit­autor von Es kann auch anders laufen: Auf der Suche nach einer alter­na­tiven Regelung des Kon­ti­nents (2018) und Gestoh­lenes Europa (2015).
Der Artikel wird hier mit freund­licher Geneh­migung des Autors wiedergegeben.
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