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Sehr deut­liche Worte: Das rus­sische Fern­sehen ana­ly­siert die aktu­ellen Pro­blemen in der EU

Das rus­sische Fern­sehen brachte am Sonntag in der Sendung „Nach­richten der Woche“ eine wirklich spitz­züngige, aber gelungene und umfas­sende Analyse der Situation der EU in diesen Tagen, denn die Liste der Pro­bleme und Mei­nungs­ver­schie­den­heiten in der EU ist so groß, wie wahr­scheinlich nie zuvor.
Pro­bleme gibt es in der EU in diesen Tagen reichlich und von manchen hören wir in Deutschland nicht einmal etwas. Der Brexit ist ein Thema,auch die neue Kom­mis­si­ons­prä­si­dentin von der Leyen, die einen sehr schlechten Start hatte, ist ein Thema. Auch Strei­tig­keiten zwi­schen Berlin und Paris über die Zukunft der EU gibt es. Gleich­zeitig hat Macron der Nato den „Hirntod“ dia­gnos­ti­ziert und sich gegen eine ver­spro­chene EU-Erwei­terung gestellt. Zu allem Über­fluss schießt dann auch noch Polen quer. Und – das Thema spielt in deut­schen Medien keine Rolle – der Tran­sit­vertrag für Gas durch die Ukraine läuft am 1. Januar aus und es gibt keinen neuen Vertrag, was zu Eng­pässen bei der Gas­ver­sorgung führen kann, da Nord Stream 2 zum 1. Januar die Arbeit noch nicht auf­nehmen kann.
Es sind so viele Pro­bleme, wie lange nicht (oder viel­leicht noch nie zuvor) und das rus­sische Fern­sehen hat sie alle in zwei auf­ein­an­der­fol­genden Bei­trägen behandelt, die ich hier beide über­setzt habe.
Beginn der Übersetzung:
Das Treffen von Putin und Selensky in Paris findet in wenigen Tagen statt. Unter vier Augen? Der Kreml bestätigt dies jedoch nicht, so dass das Gespräch viel­leicht nur zu viert statt­finden wird, in Anwe­senheit der Staats- und Regie­rungs­chefs Frank­reichs und Deutsch­lands, Macron und Merkel. Es geht um die Themen Donbass und Gas. Große Erwar­tungen gibt es nicht, denn die Position von Selensky ist wider­sprüchlich und sein poli­ti­sches Gewicht zu Hause ist im Sturzflug. Zumindest zeigen das die Daten, die kürzlich vom Kiewer Inter­na­tio­nalen Institut für Sozio­logie ver­öf­fent­licht wurden. Demnach ging die Zustimmung für Selensky in der Ukraine seit Herbst­anfang um 21 Prozent auf und jetzt 52 Prozent zurück und zur psy­cho­lo­gisch wich­tigen Marke von 50 Prozent fehlt nicht mehr viel. Wenn es so weiter geht, wird sie sehr bald durchbrochen.
Nach Erhe­bungen eines anderen sozio­lo­gi­schen Insti­tutes der Ukraine, dem „Fonds demo­kra­ti­scher Initia­tiven“, ist das bereits geschehen, wenn es um die Frage geht, ob sich das Land in die richtige Richtung bewegt. Im August meinten mehr als die Hälfte der Ukrainer, dass das Land auf dem rich­tigen Weg ist, jetzt sagen das nur noch 36 Prozent. Und 39 Prozent glauben, dass die Ukraine den fal­schen Weg ein­schlägt. Die Ent­täu­schung im Land ist offensichtlich.
Wenn die neue Regierung weiter schwä­chelt, wird sie bald keine eigene Linie mehr fahren können und sie wird voll­ständig gegenüber der aggres­siven Min­derheit der Natio­na­listen kapi­tu­lieren, die mit Zustimmung der schwei­genden Mehrheit den Ton angeben wird.
Unter­dessen steht das Land vor dem unpo­pu­lären Verkauf von Land, das die letzte nationale Res­source des Landes ist, und auch das Bisschen, das von der ukrai­ni­schen Industrie noch übrig geblieben ist, wird aus­ver­kauft. In Kiew wurde erschrocken reagiert, als chi­ne­sische Unter­nehmen dem ukrai­ni­schen Kar­tellamt einen Deal zur Geneh­migung vor­gelegt haben, mehr als 50 Prozent der Aktien des noch aus Sowjet­zeiten berühmten Flug­zeug­bauers „Motor Sich“ zu über­nehmen, was den Ame­ri­kanern nicht gefällt. China will „Motor Sich“ kaufen und dort in die Ent­wicklung von Tech­no­logien inves­tieren. Den Ame­ri­kanern gefällt das nicht, weil die Chi­nesen unter anderem mit Russland zusammenarbeiten.
Die Ame­ri­kaner selbst brauchen die Fabrik nicht, ebenso wenig, wie sie ukrai­nische Tech­no­logien brauchen. Sie arbeiten nach der mör­de­ri­schen Logik eines Eifer­süch­tigen: „Dann bekommt es eben niemand!“ Soll die Fabrik in der Ukraine doch ver­rotten, Haupt­sache China bekommt sie nicht. Die USA warnen die Ukraine deutlich, bis hin zu Sank­tionen, für den Fall, dass „Motor Sich“ über­wiegend chi­ne­sisch werden sollte. Es ist unwahr­scheinlich, dass Kiew unter diesen Bedin­gungen nicht gehorcht, schließlich wird das Land aus dem Ausland regiert.
Das­selbe sieht man auch bei den Gas­ver­hand­lungen der Ukraine mit Russland. Die Ame­ri­kaner wollen eine Krise orga­ni­sieren, selbst auf Kosten des Rufs der Ukraine und sogar auf Kosten der Ukrainer, die einfach kein Gas mehr aus der rus­si­schen Pipeline erhalten werden. Es ist bereits Dezember und es gibt weder einen Vertrag über direkte Lie­fe­rungen von rus­si­schem Gas in die Ukraine, noch für den Transit durch das Land nach Europa. In der Ukraine gibt es nicht einmal ein Unter­nehmen, mit dem ein Vertrag darüber abge­schlossen werden kann. Es ist immer noch nicht voll­ständig von Naf­togaz abge­trennt. Aber niemand scheint es eilig zu haben.
Russland ist fle­xibel, aber alle seine Vor­schläge wurden abge­lehnt. Es ist klar, dass ohne einen Vertrag, der Gas von uns über die Ukraine nach Europa pumpt, die Gas­lie­fe­rungen durch die ukrai­nische Pipeline am 1. Januar ein­ge­stellt werden. Niemand in Moskau wird sich an ille­galem Schmuggel betei­ligen. Ohne Vertrag wird also das Gas­ventil unse­rer­seits unwei­gerlich geschlossen, auch wenn es Auf­schreie geben sollte.
Das Thema Gas wurde auch in Europa und Deutschland zum Streit­punkt. Nachdem Berlin seinen fast ver­ges­senen Selbst­er­hal­tungs­trieb wieder ent­deckt hatte, legte es Berufung gegen die Ent­scheidung des Gerichts ein, das Polens For­derung, Gazprom die Nutzung der Opal-Gas­pipeline nur zu 50 Prozent zu erlauben, statt­ge­geben hatte.
Opal ist eine Gas­pipeline in Deutschland, eine Fort­setzung von Nord Stream 1. Außer Gazprom gibt es nie­manden, der an sie ange­schlossen ist und Gas durch­leiten könnte, aber Polen hat im Oktober dieses Jahres die Ent­scheidung des Gerichts her­bei­ge­führt, Gazprom nur die Nutzung der Hälfte der Kapa­zität von Opal zu erlauben. Nun wird Deutschland selbst recht­liche Schritte gegen Polen ein­leiten. Aber das ist nur ein kleiner Teil der ziemlich harten, inner­eu­ro­päi­schen Spannungen.
Der 1. November, am hell­lichten Tag. Drei Männer jagen einen vierten auf der London Bridge. Sie liegen auf dem Asphalt. Sie schlagen ihm ein Messer aus den Händen. Die Polizei kommt. Poli­zisten ziehen die anderen von dem am Boden lie­genden Men­schen weg. Dann gehen sie auch auf Abstand und es fallen Schüsse.
Usman Khan, 28, der von der Polizei erschossen wurde, verübte ein Mas­saker bei einer Abschluss­feier der Uni­ver­sität Cam­bridge im Gebäude der Fishermen Guild. Auf fünf Men­schen hat er ein­ge­stochen, ein Mann und eine Frau starben am Tatort, drei weitere Men­schen liegen auf der Inten­siv­station. Er trug einen fal­schen Spreng­stoff­gürtel, daher hat die Polizei ihn vor Ort erschossen.
Stunden später wurde ein ähn­licher Anschlag in Den Haag in einer zen­tralen Ein­kaufs­straße verübt. Drei Jugend­liche, die Weih­nachts­ein­käufe machten, wurden ver­letzt. Dem Täter gelang die Flucht. Die Polizei sucht nach einem großen, etwa 50 Jahre alten Mann.
Solche Nach­richten sind in Europa zur Routine geworden, zu einem Hin­ter­grund­ge­räusch, das das euro­päische Leben begleiten wird, unab­hängig von der geo­po­li­ti­schen Posi­tio­nierung der Euro­päi­schen Union und unab­hängig von ihrer wirt­schaft­lichen und finan­zi­ellen Situation. Die Sze­narien wie­der­holen sich, die Mord­waffen sind meist Messer und sogar die Orte wie­der­holen sich bereits: Vor zwei­einhalb Jahren erstochen zwei Isla­misten acht Men­schen, eben­falls auf der London Bridge.
Die Führer der NATO-Länder, die sich bald in London treffen werden, haben noch einen wei­teren Grund zum Nach­denken. Obwohl, wenn man dem fran­zö­si­schen Prä­si­denten zustimmt, wird Nach­denken ein sinn­loses Unterfangen.
Macron dia­gnos­ti­zierte kürzlich bei der NATO den „Hirntod“. Und diese Aussage war so stark, dass sie in Europa immer noch Wellen schlägt. Merkel und Macron streiten offen über dieses Thema.
Merkel sagte im Bun­destag: „Der Erhalt der Nato ist in unserem Interesse, mehr noch als im Kalten Krieg. Oder zumindest nicht weniger. Europa kann sich selbst nicht verteidigen.“
Macron ent­gegnete in Frank­reich: „Vor wem? Vor wem müssen wir uns schützen? Wer ist unser gemein­samer Feind? Was sind unsere gemein­samen Ziele? Manchmal wird gesagt, Russland sei der Feind. Oder China. Oder ist es die Aufgabe der Nato, aus ihnen Feinde zu machen? Ich hoffe nicht. Der Ter­ro­rismus ist unser gemein­samer Feind.“
Der Wunsch, nichts zu ver­ändern oder der Wunsch, die Ver­än­derung zu gestalten, das sind die zwei Zukunfts­kon­zepte, die den deutsch-fran­zö­si­schen Kern der Euro­päi­schen Union spalten. Merkel, die Hun­dert­tau­sende wütender Men­schen nach Europa geholt hat, in der Hoffnung, dass sie ihre alten Gewohn­heiten auf­geben und Goethe lesen, anstatt Messer mit sich führen, scheint darauf zu bauen, die ver­ständ­liche und ver­traute Ordnung wiederherzustellen.
Der Unru­he­stifter Macron hat große Pläne: eine euro­päische Armee, eine unab­hängige Außen­po­litik, harte Dis­ziplin. Er ver­leugnet die NATO nicht, aber er kri­ti­siert sie. So schlägt er bei­spiels­weise vor, die Türkei aus dem Bündnis aus­zu­schließen. Prä­sident Erdogan hat das nicht sehr gut gefallen. Er ant­wortete so deutlich, dass der tür­kische Bot­schafter in das fran­zö­sische Außen­mi­nis­terium ein­be­stellt wurde: Erdogan hatte Macron den „Hirntod“ attestiert.
Macaron übernahm die schwierige Mission, darüber zu sprechen, worüber andere Angst haben, zu reden. Das spricht nicht immer für die Weit­sicht eines Poli­tikers, aber der fran­zö­sische Prä­sident glaubt, dass es keine Zeit zu ver­lieren gibt, dass man nicht mehr vor­sichtig sein kann, dass es nun not­wendig ist, eine Stra­tegie für das Über­leben der EU selbst zu formulieren.
Eines seiner Schlüs­sel­ele­mente: Solange es keine Ordnung im Inneren gibt, gibt es auch keine EU-Erwei­terung. Frank­reich hat den Bei­tritt Alba­niens und Nord­ma­ze­do­niens zur Euro­päi­schen Union blo­ckiert. Für letz­teres ist das besonders ärgerlich, für den EU-Bei­tritt hat das Land sogar seinen Namen geändert. Die Griechen wollten es so, bitte sehr. Und nun das. Der Prä­sident von Nord­ma­ze­donien beschwert sich bitterlich.
Innerhalb der EU hat Macrons Sturheit besonders den Polen nicht gefallen: Sie waren schon dabei, die Neu­zu­gänge in ihre Obhut zu nehmen, was ihren Ein­fluss auf euro­päische Ange­le­gen­heiten stärken sollte. Und die Kan­di­daten selbst hofften, wie Polen zu pro­fi­tieren: den Gesamt­haushalt der Euro­päi­schen Union zu melken und die Erfolge als ihr eigenes Wirt­schafts­wunder zu ver­kaufen. Aber das Freibier wurde abgesagt.
Der EU-Haushalt steht kurz vor dem Verlust seines zweit­größten Geld­gebers, Groß­bri­tannien. Ja, generell steht es nicht zum Besten, die Regierung der wohl­ha­benden Nie­der­lande hat zum Ent­setzen der arbei­tenden Bevöl­kerung von einer Erhöhung der Ren­ten­bei­träge gesprochen. Und zwar gleich um ein Drittel. Andern­falls werden die dor­tigen Rentner im nächsten Jahr weniger Rente erhalten. Und das Problem haben viele Länder.
Bei der Auf­stellung des neuen, lang­fris­tigen Haus­halts­plans für die Jahre 2021–2027 bestand die der­zeitige fin­nische Prä­si­dent­schaft daher auf der Not­wen­digkeit, die Zah­lungen an die neuen Mit­glieder zu kürzen. Polen wird immer noch am meisten bekommen, etwa 65 Mil­li­arden Euro an Sub­ven­tionen, aber es hat mit 90 gerechnet und pro­tes­tiert laut­stark. Minis­ter­prä­sident Mateusz Mora­wiecki sagte, sein Land akzep­tiere keine fin­ni­schen Haus­halts­vor­schläge. An Polen darf die EU nicht sparen. Rentner in den Nie­der­landen mögen Pro­bleme haben, ihre pol­ni­schen Kol­legen jedoch nicht.
Schön gesagt, so führen die Natio­na­listen von Kac­zynskis Partei „Recht und Gerech­tigkeit“ das Land seit einem Jahr­zehnt. Sie haben ihren Wählern die Gewissheit gegeben, dass das pol­nische Bankett in der Euro­päi­schen Union ihrer Meinung nach von den alten, dummen Mit­gliedern bezahlt werden soll. Gleich­zeitig wollen sie keine Flücht­linge auf­nehmen und die Unab­hän­gigkeit der Gerichte und die Pres­se­freiheit einschränken.
Polens Diplo­matie ver­bindet erfolg­reich Washingtons Unver­schämtheit mit pol­ni­scher Frechheit gegenüber seinen Nachbarn. Und die Tat­sache, dass das funk­tio­niert, macht War­schau für einige EU-Länder zu einem Macht­zentrum, das ein drittes Konzept zur EU-Ent­wicklung anbietet. Es besteht in der voll­stän­digen Aufgabe euro­päi­scher Inter­essen zu Gunsten der Ver­ei­nigten Staaten. Mit pol­ni­scher Vermittlung.
Die drei poli­ti­schen Zentren der EU – Berlin, Paris und War­schau – sehen die Zukunft völlig unter­schiedlich. Sie werden sich ent­scheiden müssen. Das wird der größte Kon­flikt sein, die zen­trale Her­aus­for­derung für die Einheit Europas in den kom­menden Jahren. Und jetzt ist es höchste Zeit, das auch zu sagen. Denn seit dem 2. Dezember hat die Euro­päische Union eine neue Regierung unter der Führung der ehe­ma­ligen deut­schen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­terin Ursula von der Leyen.
Ende der Übersetzung
Wenn Sie sich dafür inter­es­sieren, wie Russland auf die Fragen der inter­na­tio­nalen Politik blickt, dann sollten Sie sich die Beschreibung meines Buches ansehen, in dem ich Putin direkt und unge­kürzt in langen Zitaten zu Wort kommen lasse. 

Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“