Die Macht der Machtlosen

Danzig ist im August immer über­laufen. Es wird der inzwi­schen drei­wö­chige Domi­ni­ka­ner­markt abge­halten, den es mit Unter­bre­chungen im Krieg und im Sozia­lismus seit dem Mit­tel­alter gibt.

Wir kamen an einem der geschichts­träch­tigsten Augusttage in der Stadt an. Am 15. August 1920 siegte bei War­schau die pol­nische Armee über die sowje­ti­schen Inva­soren. Polen konnte noch nicht ins sowje­tische Imperium eige­gliedert werden.

Am 15. August 1980 wurde bekannt, dass ein Streik auf der Dan­ziger Lenin­werft begonnen hatte. Anlass war die Ent­lassung der Kran­fah­rerin Anna Walen­ty­nowicz, offi­ziell wegen „erheb­licher Ver­letzung der Arbeits­pflichten“, in Wahrheit, weil die seit 1950 auf der Werft ange­stellte Arbei­terin für die oppo­si­tio­nellen Freien Gewerk­schaften tätig war.

Lech Wałęsa, der bereits 1976 aus der Werft ent­lassen worden war, schloss sich den Strei­kenden an und wurde ihr Anführer. Das war der Beginn des Endes der kom­mu­nis­ti­schen Gewalt­herr­schaft und die erste Wehe der Geburt eines freien Europas.

Heute steht neben dem legen­dären Werktor Nr.2, das zum Symbol des Wider­standes wurde, ein spek­ta­ku­lärer Bau. Das mit ros­tigen Eisen­platten ver­kleidete Gebäude in Form eines Schiffes beher­bergt das Euro­päische Soli­darność-Zentrum, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die Erin­nerung an die groß­artige Frei­heits­be­wegung wach zu halten und gleich­zeitig den Soli­da­ritäts-Gedanken im neuen Europa zu befördern. Dazu dient vor allem eine Dau­er­aus­stellung, die letztes Jahr mit dem renom­mierten Muse­ums­preis des Euro­pa­rates aus­ge­zeichnet wurde. Das Zentrum ist aber auch Kultur- und For­schungs­stätte mit einer bedeu­tenden Fach­bi­bliothek. Außerdem beher­bergt es das Büro des Staats­prä­si­denten a.D. Lech Wałęsa.

Die Gründer des Zen­trums wollten eine mit­tel­eu­ro­päische Agora schaffen. Es ist ihnen gelungen. Das Zentrum zieht Besucher aus aller Welt an, die sich über­zeugen, dass die „Erfah­rungen des pol­ni­schen Wegs zur Freiheit auch heute noch gesell­schaft­liches Potential besitzen und das Erbe von Soli­darność immer noch eine inspi­rie­rende Quelle für Europa ist“.

Im ersten Saal wird die Geburt von Soli­darność gezeigt. Das Material ist vor­bildlich auf­ge­ar­beitet und auf eine Weise prä­sen­tiert, die unter die Haut geht. In der Kran­kabine von Anna Walen­ty­nowicz kann man sich über die Hin­ter­gründe des Streik­be­ginns infor­mieren. Auf einem der Elek­tro­karren, für deren Wartung Lech Wałęsa als Elek­triker zuständig war und der in den Streik­tagen als mobile Red­ner­tribüne gebraucht wurde, erfährt man mehr über den Verlauf des Ausstands.

Schließlich steht man vor den 21 For­de­rungen der Strei­kenden, die von zwei Arbeitern auf 3 Sperr­holz­platten geschrieben wurden, weil es keine Mög­lichkeit gab, sie anders sichtbar zu machen. Sie wurden am 17.August 1980 der Öffent­lichkeit präsentiert.

Die Platten wurden später während der Kriegs­rechts­jahre auf einem Dach­boden ver­steckt und 1996 dem Museum über­geben. Heute gehören die Tafeln zum UNESCO-Welt­re­gister „Gedächtnis der Menschheit“.

Die erste For­derung ist die nach freien Gewerk­schaften, die dritte die nach Mei­nungs­freiheit durch Abschaffung der staat­lichen Zensur. Zensur-Minister Heiko Maas sollte eine ähn­liche Sperr­holz­platte vor sein Minis­terium gestellt werden. Was die pol­ni­schen Arbeiter unter Einsatz ihres Lebens erstritten, wird heute von euro­päi­schen Regie­rungen wieder abgeschafft.

Der Streik griff bald auf andere Betriebe in ganz Polen über. Die Kom­mu­nisten waren gezwungen, ein­zu­lenken. Die meisten For­de­rungen der Arbeiter wurden erfüllt, sogar die nach einem Denkmal für die im Streik von 1970 ermor­deten Werft­ar­beiter, drei riesige Kreuze, an denen drei Anker, Symbole der Hoffnung, hängen. Soli­darność wurde zur Mas­sen­be­wegung, die auf ganz Ost­europa aus­strahlte und erheblich zur Ent­stehung und Stärkung der Oppo­si­ti­ons­be­we­gungen in den anderen sozia­lis­ti­schen Ländern beitrug.

Sogar der Westen war beein­druckt. So sehr, dass Czesław Miłosz, ein in Amerika lebender pol­ni­scher Schrift­steller, dessen Werke für die Oppo­sition sehr bedeutend waren, im Oktober 1980 den Lite­ra­tur­no­bel­preis erhielt. Andrzej Waida bekam für seinen Film „Der Mann aus Eisen“, in dem er die August­ereig­nisse auf der Lenin­werft beschreibt, im Mai 1981 die „Goldene Palme“ in Cannes. Dar­aufhin trat der Film einen Sie­geszug durch die freie Welt an. Auch die pol­nische Regierung musste die Auf­führung gestatten. In den wenigen Monaten von Juni bis Dezember 1981, dem Beginn des Kriegs­rechts, hatten Mil­lionen Polen den Film gesehen.

Es fanden freie Rock­fes­tivals zur Unter­stützung von Soli­darność statt. Im ganzen Land herrschte eine eupho­rische Aufbruchstimmung.

Das machte den kom­mu­nis­ti­schen Macht­habern Angst. Das sowje­tische Politbüro plante einen Ein­marsch in Polen, wie 1968 in der Tsche­cho­slo­wakei zur Unter­drü­ckung des Prager Frühlings.

Die pol­ni­schen Kom­mu­nisten wollten eine „interne Lösung“. Das war die Ver­hängung des Kriegs­rechts im Dezember 1981. Es war ein Krieg gegen die Gesell­schaft. Ein Symbol dafür wurde das Foto eines kana­di­schen Jour­na­listen, das einen Pan­zer­wagen vor dem War­schauer Kino „Moskau“ zeigt, an dessen Fassade die Werbung für den Film „Apo­ca­lypse now“ prangte. Das Negativ übergab der Fotograf einem unbe­kannten deut­schen Stu­denten mit der Bitte, es im Westen den Agen­turen zu über­geben, was der wirklich tat.

Im selben Raum ist auch ein Ein­satz­wagen der Polizei zu sehen, wie sie damals in den Straßen her­um­fuhren. Im Inneren läuft ein Film über die Poli­zei­ein­sätze gegen die Bevölkerung.

Aber auch die Arbeit der Oppo­sition im Unter­grund ist doku­men­tiert. Man kann sich an den Schreib­tisch von Jacek Kuron setzen, von dem aus er die Welt über die Vor­gänge in Polen unter­richtete und an dem er seine berühmten Flug­schriften ver­fasste. Man bekommt einen Ein­blick in die ille­galen Dru­cke­reien, den ille­galen Sender von Soli­darność, aber auch in die Haft­be­din­gungen der poli­ti­schen Gefangenen.

Die letzten Räume sind der Krise des Impe­riums und dem Weg zur Demo­kratie gewidmet. Im Frühjahr 1990 war die pol­nische Regierung gezwungen, sich mit der noch ver­bo­tenen Soli­darność an einen „Runden Tisch“ im War­schauer Schloss zu setzen und die ersten freien Wahlen im Ost­block aus­zu­handeln. Eine Nach­bildung dieses Tisches sieht man in einem Saal, an dessen Wände abwech­selnd die Bilder vom Ori­ginal-Ver­hand­lungsraum oder Szenen von den Mas­sen­de­mons­tra­tionen zur Unter­stützung von Soli­darność während der Ver­hand­lungen pro­ji­ziert werden. Man kann sehen, wer wo saß und wem er in die Augen schauen musste.

Am Ende dieses Aus­stel­lungs­teils ist zu sehen, wie sich die Frei­heits­be­wegung 1989 über ganz Ost­europa aus­breitete und das kom­mu­nis­tische Regime zum Ein­sturz brachte. Folglich ist der letzte Raum dem Triumph der Freiheit gewidmet.

Diese Aus­stellung zu sehen, bedeutet sich zu fragen, warum diese groß­artige Frei­heits­be­wegung nicht zum Grün­dungs­mythos eines Ver­einten Europas wurde. Der Wunsch, dass dem Dan­ziger Soli­darność-Zentrum ähn­liche Ein­rich­tungen in anderen Ländern folgen würden, hat sich bis jetzt nicht erfüllt. Aber es hat auch fast ein Jahr­zehnt gedauert, bis Soli­darność überall Schule machte. Die Polen sind uns viel­leicht wieder einmal einen Schritt voraus.

Mir ist in der Aus­stellung schlag­artig klar geworden, was in der deut­schen Auf­ar­beitung der SED-Dik­tatur fatal falsch gelaufen ist. Sie ist als Opfer-Geschichte behandelt worden, statt den Wider­stand und den Frei­heits­willen in den Mit­tel­punkt zu stellen. Von Opfern kann man nichts lernen, sie fordern Mitleid, das letztlich unpo­li­tisch ist. Deshalb ist unser „Ein­heits- und Frei­heits­denkmal“ eine ent­po­li­ti­sierte Wippe, auf der die Men­schen plan- und ziellos hin- und her­laufen können, ohne viel zu denken. Jeg­liche Inspi­ration fehlt und von Ermu­tigung zur Freiheit ist nichts zu spüren.

Die Polen haben es vor­ge­macht, wie man frucht­bringend mit seinem poli­ti­schen Erbe umgeht. So wie Soli­darność zum Vorbild wurde, muss auch der Geist dieses Zen­trums in ganz Europa wirksam werden, dann könnte das Ver­einte Europa noch gelingen.

Bild: Streik in der Dan­ziger Lenin­werft 1980 / Wikipedia

Dieser Artikel erschien ursprünglich hier:  http://vera-lengsfeld.de/2017/08/17/die-macht-der-machtlosen/