Die Oppo­sition in der gleich­ge­schal­teten Gesellschaft

Wie man bis zum Überdruß hören kann, wie­derholt die Geschichte sich nicht. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit; denn struk­turell gesehen wie­der­holen sich geschicht­liche Situa­tionen sehr wohl.

(Gast­beitrag von Prof. Dr. Johann Braun)

Wie man bis zum Überdruß hören kann, wie­derholt die Geschichte sich nicht. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit; denn struk­turell gesehen wie­der­holen sich geschicht­liche Situa­tionen sehr wohl. Aller­dings denken die Men­schen häufig anders über das, was in einem solchen Fall zu tun ist. Diese Ambi­valenz umfaßt sowohl die Mög­lichkeit, alte Fehler zu ver­meiden, als auch die, sie zu wie­der­holen oder noch größere zu begehen. Um es besser machen zu können, muß man sich der par­al­lelen Pro­ble­matik indessen zunächst einmal bewußt sein. Das gilt auch für die Auf­gaben unserer Zeit – unter anderem zum Bei­spiel für die Gestaltung der Politik für die nächsten Jahre und damit für die bevor­ste­hende Bun­des­tagswahl. Blicken wir daher zunächst kurz zurück:

Die oppo­si­ti­ons­losen 60er Jahre

Das poli­tische Schlüs­sel­er­lebnis der älteren Gene­ration war die Ent­stehung der APO – für jüngere Leser: der außer­par­la­men­ta­ri­schen Oppo­sition. Diese for­mierte sich, weil sich in der Bun­des­re­publik Ende 1966 eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD gebildet hatte. Neben diesem Bündnis gab es in Gestalt der FDP zwar auch eine par­la­men­ta­rische Oppo­sition. Diese ver­fügte im Bun­destag jedoch nur über 9,5 Prozent der Stimmen, war also poli­tisch ein­flußlos. Die große Koalition hatte nicht nur die absolute, sondern mit weitem Abstand auch die ver­fas­sungs­än­dernde Mehrheit und konnte daher prak­tisch alles durch­setzen, was auf ihrer Agenda stand. Tat­sächlich wollten die Koali­tionäre die Ver­fassung in einigen wich­tigen Punkten ändern. Großen Wirbel lösten vor allem die soge­nannten Not­stands­ge­setze aus. Der Phi­losoph Karl Jaspers fand in seinem zeit­gleich erschie­nenen Buch “Wohin treibt die Bun­des­re­publik?” dagegen überaus harte Worte. Er erblickte darin das Instrument, durch das in nicht ferner Zukunft eine neue Dik­tatur ent­stehen würde. Viele poli­tisch aktive Stu­denten sahen dies ähnlich und argu­men­tierten, wenn es innerhalb des Par­la­ments keine wirksame Oppo­sition gäbe, müsse eine solche wenigstens außerhalb geschaffen werden, sonst sei es um die Demo­kratie geschehen. Wenn­gleich die K‑Gruppen, die sich damals gern als außer­par­la­men­ta­rische Oppo­sition gerierten, nicht eben den Ein­druck erweckten, als seien sie am Erhalt des demo­kra­ti­schen Rechts­staats inter­es­siert – im Ansatz war diese Argu­men­tation schlüssig und ver­schaffte der 68er Bewegung großen Zulauf. Denn eine freie Oppo­sition ist für die Demo­kratie in der Tat so unver­zichtbar wie für unser­einen die Luft zum Atmen. Was die APO in Verruf brachte, war im Grunde nur dies, daß viele ihrer Anhänger in eine chao­tische Total­op­po­sition zum Staat traten, was eine rationale Dis­kussion mit ihnen unmöglich machte.

Die oppo­si­ti­onslose Gegenwart

Blickt man mit den Erfah­rungen jener Zeit auf die Gegenwart, so sind die Par­al­lelen unver­kennbar. Aller­dings erscheint die Lage im Augen­blick um einiges dra­ma­ti­scher als damals. Nachdem eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD bereits von 2005 bis 2009 die Regierung gestellt hatte, besteht diese Kon­stel­lation seit 2013 erneut. Der Regie­rungs­mehrheit, die knapp 80 Prozent der Sitze des Bun­des­tages innehat, steht seitdem eine par­la­men­ta­rische Oppo­sition aus Linken und Grünen gegenüber, die über rund 20 Prozent der Sitze verfügt. Die Regie­rungs­par­teien haben also erneut völlig unge­fährdet die für eine Ver­fas­sungs­än­derung nötige Mehrheit. Aber damit nicht genug: während in den “heißen” 60er Jahren die damalige par­la­men­ta­rische Oppo­sition die Regie­rungs­mehrheit wenigstens verbal zu stellen ver­suchte, macht die heutige Oppo­sition mit der Regierung in fun­da­men­talen Fragen gemeinsame Sache, ja, sie unter­stützt die Regie­rungs­po­litik zum Teil nach­drück­licher als die Regie­rungs­par­teien selbst. Ent­schei­dungen, die für die Zukunft des Landes von höchster Wich­tigkeit sind, können daher getroffen werden, ohne daß über das Für und Wider eine kon­tro­verse Aus­sprache statt­ge­funden hat.

Keine neue APO

Unter solchen Umständen wäre es an sich die urei­genste Aufgabe der Medien, die Rolle der Oppo­sition zu über­nehmen, dies jeden­falls in dem Sinn, daß sie Alter­na­tiven zu der immer wieder als “alter­na­tivlos” erklärten Regie­rungs­po­litik auf­zu­zeigen und zu erläutern hätten. Wenn es zutrifft, daß die Demo­kratie die insti­tu­tio­nelle Form des ratio­nalen poli­ti­schen Dis­kurses dar­stellt, dann setzt sie einen offenen gesell­schaft­lichen Diskurs voraus, der seine Sprach­rohre vor allem in den Medien findet. Diese müßten sich daher der im Par­lament sys­tem­widrig nicht ver­tre­tenen Inter­essen annehmen. Auch insoweit ist jedoch eine Fehl­an­zeige zu ver­zeichnen, weil die meisten Medien mit der Regie­rungs­po­litik in wesent­lichen Fragen eben­falls konform gehen. Für einen außen­ste­henden Beob­achter erwecken sie seit Jahren den Ein­druck einer gleich­ge­schal­teten Bericht­erstattung und Mei­nungs­pflege, so daß man unwill­kürlich von einem poli­tisch-medialen Komplex zu sprechen geneigt ist: Dritte und “vierte Gewalt” arbeiten Hand in Hand, was nichts anderes bedeutet, als daß das alte Modell der Gewal­ten­teilung leerläuft.

Aber auch dies ist nicht alles: auch Schulen und Hoch­schulen, über­haupt das ganze Erzie­hungs­wesen ist in diesen Verbund ein­be­zogen. Von der Kita über die Grund­schulen und Gym­nasien bis zur Hoch­schule durch­laufen die Men­schen heute eine Sozia­li­sation, die sie immer mehr mit einer main­stream-affinen Men­ta­lität und Mora­lität aus­stattet. Diese wird auf allen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebenen bestätigt und ver­stärkt und findet wie zu fällig in der Regie­rungs­po­litik ihre Erfüllung. Wer sich dem all­ge­meinen Trend überläßt, hat kei­nerlei Schwie­rig­keiten und fühlt sich frei, weil scheinbar alles nach seinen Vor­stel­lungen läuft.  Tat­sächlich jedoch hat der Begriff der Freiheit in dieser Welt seine Bedeutung ver­loren. Denn die Freiheit, dieser Ein­heits­front mit Argu­menten offen ent­ge­gen­zu­treten, gibt es prak­tisch nicht mehr. Wer dies dennoch unter­nimmt, unter­schreibt sein soziales Todes­urteil. Selbst wer nur leise Zweifel anmeldet, kann fest­stellen, wie seine Umgebung zu ihm auf Distanz geht und ihn unter Recht­fer­ti­gungs­druck stellt. Um abseh­baren Schwie­rig­keiten aus dem Weg zu gehen, haben daher viele ein System der Selbst­kon­trolle akzep­tiert, das ihnen jedes poli­tisch uner­wünschte Wort ver­wehrt und bereits im Vorfeld jeden unkor­rekten Gedanken untersagt. Die Folge ist ein Klima geis­tiger Unfreiheit, das jeden, der die DDR noch von innen erleben durfte, an das dort prak­ti­zierte Ver­fahren der Gedan­ken­kon­trolle erinnert.

Eine Stu­den­ten­ge­neration wie in den 60er Jahren, die gegen dieses System mas­senhaft pro­tes­tieren und abermals eine nen­nens­werte außer­par­la­men­ta­rische Oppo­sition for­mieren würde, ist derzeit nicht in Sicht. Im Gegenteil, wer die ver­schie­denen Stufen betreuten Denkens durch­laufen hat, ist in der Regel so sehr zu einem Bestandteil dieses Systems geworden, daß die Regierung mit dem Slogan “Weiter so!” derzeit gerade bei Jün­geren offene Türen einrennt.

“Poli­tische Pro­fes­soren” stehen auf seiten des Mainstream

Die skiz­zierte Ent­wicklung ist nicht auf Deutschland beschränkt, wenn­gleich ihre Aus­wüchse aus man­cherlei Gründen hier am deut­lichsten in Erscheinung treten. In vielen Staaten der west­lichen Welt ist ähn­liches zu beob­achten. Das legt die Frage nahe, ob die mentale und poli­tische Gleich­schaltung nicht überall gleiche oder doch ähn­liche Gründe hat. Das ist sicher ein weites Feld. Manche ver­muten als Ursache die unsichtbare Hand inter­na­tional wirk­samer Inter­essen, die hinter den Kulissen ihren Einfluß geltend machen und demo­kra­tische Poli­tiker zu Mario­netten degra­dieren. Das näher zu unter­suchen, wäre eine loh­nende Aufgabe für eine empi­rische Sozi­al­for­schung. Von der Wis­sen­schaft aller­dings ist insoweit wenig Auf­schluß zu erwarten; denn sie ist über­wiegend an Hoch­schulen und Insti­tuten ange­siedelt, die selbst Teil des beschrie­benen Systems sind. Außerhalb dessen schießen vorerst Spe­ku­la­tionen ins Kraut.

Aber auch unab­hängig hiervon betä­tigen sich viele Geistes- und Sozi­al­wis­sen­schaftler von Haus aus als Ver­stärker des Zeit­geistes. Die Neu­gierde, Fragen zu stellen, die von der poli­tisch kor­rekten Mehrheit als “nicht hilf­reich” ange­sehen werden, geht ihnen häufig ab. Während die Pro­fes­soren des poli­ti­schen Vormärz zum Teil noch Mut vor Königs­thronen bewiesen und für die Demo­kratie Flagge zeigten, darf man von ihren heu­tigen Kol­legen eine ver­gleichbare Haltung weniger erwarten. Sie fühlen sich als Teil des intel­lek­tu­ellen Estab­lish­ments und sind fast darauf pro­gram­miert, den Main­stream zu unter­stützen und Abweichler, sowohl innerhalb wie außerhalb ihrer Reihen, mit sub­tilen Mitteln zum Schweigen zu bringen. Oppo­sition war gestern, Konsens ist heute.

Neue Par­teien als Hoffnung und Störenfriede

Eine sys­tem­im­ma­nente Mög­lichkeit, die Demo­kratie auch künftig am Leben zu erhalten, ist daher im Grunde allein die, mit Hilfe einer neuen Partei die Szene auf­zu­mi­schen. Das ist denn auch der Weg, den das Grund­gesetz in Artikel 21 Absatz 1 vor­sieht. So selbst­ver­ständlich die Gründung einer neuen Partei demnach sein mag, so stößt sie doch in der Rea­lität auf unend­liche Schwie­rig­keiten. Als Partei muß sie selbst­ver­ständlich darauf aus sein, Mandate zu gewinnen. Das aber bedeutet, daß im Erfolgsfall einige der bis­he­rigen Man­dats­träger ihre Ämter und Pfründe ver­lieren. Diese Aus­sicht schweißt die Eta­blierten zusammen wie Pech und Schwefel und läßt sie jeden Neuling mit allen Mitteln – erlaubten wie uner­laubten – bekämpfen. Der herr­schafts­freie Diskurs, der allein dem bes­seren Argument zur Geltung ver­helfen soll, ver­wandelt sich daher in der poli­ti­schen Wirk­lichkeit zu einer Schlamm­schlacht übelster Sorte.

Das läßt sich am Bei­spiel der 2013 gegrün­deten “Alter­native für Deutschland” gut beob­achten. Wer sich zu dieser Partei bekennt, muß auch in der bisher frei­esten deut­schen Gesell­schaft gewärtig sein, am Arbeits­platz oder unter Bekannten Spieß­ruten zu laufen und womöglich seine Anstellung zu ver­lieren. Wer ein Amt in ihr über­nimmt, muß damit rechnen, daß sein Haus ver­schandelt, sein Auto abge­fa­ckelt und er selbst kör­perlich ange­griffen und zusam­men­ge­schlagen wird. Von den Main­stream-Medien hat er in einem solchen Fall nur klamm­heim­liche Freude und Häme zu erwarten. Je mehr jemand zu ver­lieren hat, desto mehr überlegt er es sich unter solchen Umständen, ob er sich für diese Partei enga­gieren soll. Die Per­so­nal­decke geeig­neter Man­dats­träger ist daher fast zwangs­läufig dünn. Für die die Medien, deren Treib­jagd­men­ta­lität daran einen wesent­lichen Anteil hat, ist dies eine will­kommene Gele­genheit, die neue Partei auch von dieser Seite her anzu­prangern. In Wahl­kampf­zeiten wie jetzt kommt hinzu, daß die Wahl­plakate der Partei tau­sendfach abge­rissen oder beschädigt werden, daß Gast­wirte und Hote­liers massiv unter Druck gesetzt werden, dieser Partei keine Lokale für Wahl­ver­an­stal­tungen und ihren Mit­gliedern keine Hotel­zimmer zur Ver­fügung zu stellen, daß schließlich Per­sonen mit Rang und Namen ihr Ansehen nutzen, um die Partei argu­mentfrei zu dia­bo­li­sieren. Man arbeitet mit allen Mitteln darauf hin, den demo­kra­ti­schen Prozeß außer Kraft zu setzen, wobei die großen Medien und die eta­blierten Par­teien die Haupt­ver­ant­wort­lichen dieses wenig hono­rigen  Spiels sind.

Was man bei der kom­menden Wahl weiß und nicht weiß

Ob es der Alter­native für Deutschland unter solchen Bedin­gungen gelingen kann, die zur Fassade gewordene Demo­kratie durch eine Oppo­sition, welche diesen Namen ver­dient, wieder zum Leben zu erwecken, weiß im Grunde niemand. Man kann so etwas im voraus auch nicht wissen, sondern nur aus mehr oder weniger guten Gründen hoffen. Es mag daher sein, daß die Hürden zu hoch und die Kräfte zu schwach sind, so daß die demo­kra­tie­feind­liche Schul­ter­schluß­men­ta­lität des gesamten Estab­lish­ments von oppo­si­ti­ons­wil­ligen Bürgern nicht mehr auf­zu­brechen ist. Was wir mit Sicherheit wissen, ist daher allein, daß das “Weiter so” der eta­blierten Par­teien auf das Ende Deutsch­lands und Europas, wie wir es kennen, hin­aus­läuft. Wenn die Mehrheit dies tat­sächlich will, dann gibt es in einer Demo­kratie kein Gegen­mittel. “Ein Volk muß sich selber wollen in seinem Staat”, schrieb Karl Jaspers vor mehr als 50 Jahren zu Beginn einer hoch­be­wegten Zeit. “Gibt es sich auf, durch Gehen­lassen oder Gleich­gül­tigkeit, dann ist alle Hoffnung zu Ende.” Das war für Jaspers damals kei­neswegs der Fall; denn er fuhr fort: “Es gibt sich nicht auf, solange noch einige da sind, die denken, wissen und Ziele setzen, solange Jugend noch unab­hängig zu denken wagt und von hohen Antrieben beseelt ist.” So kann man auch jetzt sagen: Deutschland gibt sich nicht auf, solange es noch Men­schen gibt, die sich ver­ant­wortlich dafür fühlen, wie mit dem über­kom­menen Erbe ver­fahren wird und unter welchen Bedin­gungen die nächste Gene­ration daher leben wird. Es gibt sich nicht auf, solange es Eltern gibt, die nicht Dem­agogen und Wirr­köpfen, sondern ihren eigenen Kindern und Enkeln ins Gesicht  sehen wollen, wenn diese später einmal Rechen­schaft von ihnen fordern werden. Und es gibt nicht auf, solange es noch Men­schen gibt, die ihre Zukunft mit der dieses Landes ver­binden und daher nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihr Land etwas zu tun bereit sind.

Für jeden, für den Worte wie Deutschland, Demo­kratie, Rechts­staat und Europa noch etwas von ihrem frü­heren Klang behalten haben, kann daher nicht zwei­felhaft sein, daß der Versuch, eine sich selbst legi­ti­mie­rende Kaste, die sich den Staat ange­eignet hat, in die Schranken zu weisen, aller Mühen wert ist. Für den mün­digen Bürger ist dieser Versuch bereits aus Gründen der Selbst­achtung geboten. Die nächsten Wochen werden zeigen, wie das Ver­hältnis von mün­digen Bürgern und sedierten Wahl­schafen real beschaffen ist.

Prof. Dr. Johann Braun, Passau, den 31. 8. 2017

 

Bild: Wiki­pedia / August Landmesser

Sym­bolbild für Wider­stand und Oppo­sition: Die his­to­rische Auf­nahme zeigt August Land­messer, der den Hit­lergruß verweigert.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf FreieWelt.net