Quo vadis Europa? — Einheit, Iden­tität, Tra­dition, Demokratie

Es gibt Fragen, die berühren unser Innerstes. So auch die Frage nach unserer eigenen Iden­tität. Nun ist aber alles, was ist, ein solches, welches geworden ist. Um das Sein einer Person, einer Gesell­schaft oder einer Kultur zu erfassen, muss man also ihre Genese kennen, um so die Mög­lichkeit zu erhalten, das Heute zu ver­stehen und das Morgen bewusst zu gestalten.

I. Frühzeit und Antike: Vom Dorf zur Polis und zum Imperium

Der Mensch, wusste schon Aris­to­teles (384–322 v. Chr., auf dem Bild oben in der Mitte mit dem blauen Umhang), ist ein Zoon poli­tikon – ein soziales, auf Gemein­schaft ange­legtes und Gemein­schaft bil­dendes Wesen. Als Ein­zel­gänger hätte der homo sapiens, der ana­to­misch moderne Mensch, nicht über­leben können und auch heute dürfte kaum einer von uns als Ein­zelner lange über­le­bens­fähig sein.

In der Frühzeit, vor zig- bezie­hungs­weise hun­dert­tau­senden von Jahren lebten die Men­schen in sehr kleinen, über­schau­baren Gruppen. Aus diesen kleinen Gruppen bil­deten sich irgendwann Dorf­ge­mein­schaften und Stämme. In Ägypten ent­stand dann bereits vor 5.000 Jahren ein großes Pha­rao­nen­reich, das Jahr­tau­sende Bestand haben sollte. In Meso­po­tamien, dem Zwei­stromland zwi­schen Euphrat und Tigris (heu­tiger Irak und Syrien), wuchsen eben­falls vor ungefähr 5.000 Jahren große Stadt­staaten heran, ins­be­sondere Babylon (Turmbau zu Babel), von dem Alex­ander der Große später zutiefst beein­druckt sein sollte.

Die Geburt Europas

In Europa ent­standen dann im antiken Grie­chenland vor ca. 2.800 Jahren die ersten soge­nannten Poleis (Sparta, Korinth, Athen …). Stadt­staaten, in denen erstmals in der Geis­tes­ge­schichte der Übergang vom Mythos zum Logos stattfand, in denen die euro­päische Phi­lo­sophie und die Wis­sen­schaften (erste Auf­klärung der Mensch­heits­ge­schichte) sowie die Demo­kratie ent­standen sind.

Hier in Grie­chenland wurde mit Thales von Milet (um 600 v. Chr.) und anderen zunächst die Natur­phi­lo­sophie ent­wi­ckelt. Mit Sokrates (470 – 399 v. Chr.), dem, so meine These, eigent­lichen geis­tigen Vater Europas, beginnt dann die Frage nach der Ethik, die Frage nach der mensch­lichen Seele und wonach der Mensch streben, wie er sein prak­ti­sches Leben führen soll, vor allem aber das kri­tische Denken, das die Auf­klärung gerade ausmacht.

Platon und Aris­to­teles begründen die Staatstheorie

Platon (427–347 v. Chr.), auf dem Bild oben links neben Aris­to­teles, der mit seinem ein­zig­ar­tigen lite­ra­risch-phi­lo­so­phi­schen Werk nicht nur seinem geliebten Lehrer Sokrates ein ewiges Denkmal setzte, sondern auch das Denken des gesamten Abend­landes prägen sollte wie kein anderer, dessen Phi­lo­sophie großen Ein­fluss auf die Ent­wicklung des Chris­tentums hatte (nach Nietzsche Pla­to­nismus fürs Volk), ent­wirft dann in seiner epo­chalen Schrift Politeia (Der Staatzum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein Modell, wie ein gerechter Staat aus­zu­sehen habe, das zugleich ein Bil­dungs­pro­gramm enthält auf einer Höhe, die erst Rousseau (1712–1778) zwei­tausend Jahre später wieder erreichen sollte.

Platons berühm­tester Schüler Aris­to­teles (384 – 322 v. Chr.) begründet sodann neben der Logik, der Wis­sen­schafts­theorie, der Bio­logie, der Physik, der phi­lo­so­phi­schen Ethik und der Dich­tungs­theorie auch die Staats­theorie. Der Staat ist für Aris­to­teles der Zusam­men­schluss klei­nerer Gemein­schaften zu einer großen, die das Ziel der Glück­se­ligkeit erfüllt. Ent­standen aus der logi­schen Folge wach­sender Gemein­schaften (Familie – Haus­ge­mein­schaft – Dorf – Polis), besteht der Staat als natür­liche Einheit zur Ermög­li­chung eines voll­kom­menen Lebens.

Der Staat (die Polis) ist also für den Men­schen da, um ihm ein Leben in Sicherheit und Freiheit zu ermög­lichen. Zugleich muss der Ein­zelne diesem Staat, der ihm das Über­leben und das gute Leben über­haupt erst ermög­lichen kann, aber auch dienen. Ein Umstand, den heute so viele ver­gessen haben. Die Selbst­be­stimmung der Bürger über das eigene Gemein­wesen, die Demo­kratie fand hier statt in kleinen über­schau­baren Ein­heiten, in Stadt­staaten (Poleis).

Die Ver­schmelzung von Perser- und Alexanderreich

Daneben gab es in Asien inzwi­schen das per­sische Groß­reich, das Alex­ander der Große (356–323 v.Chr.), der von Aris­to­teles per­sönlich unter­richtet wurde, dann später besiegen konnte, um ein eigenes Reich zu schaffen, das von Grie­chenland bis nach Ägypten und bis nach Indien reichte, das Orient und Okzident ver­binden sollte. Alex­ander selbst hei­ratete eine per­sische Fürs­ten­tochter, um Morgen- und Abendland auch dynas­tisch zu ver­einen. Alex­ander ver­suchte hierbei das Grie­chische mit dem Per­si­schen, Baby­lo­ni­schen zu ver­einen, was aller­dings noch schei­terte. Er gründete hierbei überall neue Städte, die bekann­teste hier­unter Alex­andria in Ägypten mit seiner ein­zig­ar­tigen Bibliothek, einem wahren Wis­sens­schatz der Antike. Leider hatte dieses Groß­reich keinen Bestand und zerfiel kurze Zeit nach Alex­anders Tod.

Demo­kra­tisch orga­ni­siert waren aber weder das per­sische Groß­reich, welches die grie­chi­schen Stadt­staaten übrigens immer wieder angriff und sich ein­zu­ver­leiben suchte – bekannt ist vor allem die Schlacht bei Marathon – noch das Alexanderreich.

Das Imperium Romanum bewahrt das grie­chische Erbe

Aber dennoch ging das ein­malige grie­chische Erbe nicht ver­loren. Denn auf der Apen­ni­nen­halb­insel ent­wi­ckelte sich aus der zunächst kleinen Stadt auf den sieben Hügeln, aus Rom (Gründung der Sage nach 753 v.Chr.), im Laufe der Jahr­hun­derte das Imperium Romanum, ein Welt­reich. Und die Römer, selbst zwar nicht die größten Denker, aber aus­ge­zeichnete Ver­walter und Orga­ni­sa­toren, die besten der Welt, waren schlau genug, das grie­chische Erbe zu bewahren, ließen ihre Kinder teil­weise von grie­chi­schen Gelehrten unter­richten. Und sie schufen ein weltweit ein­ma­liges Rechts­system, das Römische Recht, das für fast ganz Europa prägend werden sollte und das noch heute weltweit Vorbild ist für alle mög­lichen Rechts­systeme, bis hin nach China. Auch das moderne bür­ger­liche Recht ist nach wie vor in beson­derem Maße vom römi­schen Recht geprägt.

Das Imperium Romanum war nicht demo­kra­tisch organ­siert, doch waren die Römer klug genug, die eroberten Gebiete zwar alle Rom zu unter­stellen, aber sie führten den römi­schen Pro­vinzen nicht nur ihre weit über­legene Kultur zu, bauten ein ein­ma­liges Stra­ßennetz, welches noch heute besteht – daher der Aus­spruch, dass alle Wege nach Rom führen -, sondern gewährten den eroberten Ländern zugleich oftmals weit­ge­hende Selbst­be­stim­mungs­rechte, so dass das Leben der meisten sich nicht ver­schlech­terte, sondern verbesserte.

Auch in China, dem ein­zigen Groß­reich, das seit vielen Jahr­tau­senden bis heute Bestand hat, das zwi­schen­durch mal an Bedeutung verlor, sich inzwi­schen aber anschickt, neben den USA die zweite Super­macht des 21. Jahr­hun­derts zu werden, gab es schon vor Jahr­tau­senden Bestre­bungen, im Reich der Mitte „alle unter einem Himmel“ zusam­men­zu­fassen. Dieses Groß­reich war eben­falls niemals demo­kra­tisch orga­ni­siert, sondern immer zen­tra­lis­tisch und hier­ar­chisch von oben herab.

II. Die Bildung moderner Staaten in der Neuzeit

In der Neuzeit bil­deten sich dann die modernen Staaten, soziale Gebilde also, die drei kon­sti­tu­ie­rende Merkmale aufweisen:

  1. ein Staats­gebiet, also ein abge­grenztes Ter­ri­torium, ein Stück Erde,
  2. eine darauf als Kern­be­völ­kerung ansässige Gruppe von Men­schen, das Staatsvolk sowie
  3. eine auf diesem Gebiet herr­schende Staatsgewalt.

Genauso ein moderner Staat war das Deutsche Reich von 1871 bis 1945 (zuvor bis 1806: das Heilige Römi­sches Reich Deut­scher Nation, 1815 bis 1866 der Deutsche Bund als lockerer Zusam­men­schluss). Und genau so ein moderner Staat – und eben nicht mehr zwei Staaten – ist Deutschland seit 27 Jahren. Wir sind ein Staatsvolk, das auf einem Staats­ter­ri­torium unter einer Staats­gewalt lebt. Wir bilden eine Gemein­schaft. Wir sprechen die gleiche Sprache. Wir haben das gleiche Recht. Wir haben eine gemeinsame Tra­dition. Wir gehören zusammen.

Ganz konkret bedeutet dies z.B. wir haben alle das gleiche Rechts­system, vom Grund­gesetz bis zur StVO, egal ob wir in Kiel oder Freiburg leben. Wir haben alle die gleiche Bun­des­re­gierung. Wir haben alle die gleichen Rechte. Wir haben alle die gleiche Schul­pflicht usw. usf. Und es bedeutet auch, dass der Kranke, Arbeitslose oder der Rentner in Hamburg von Men­schen aus München oder Leipzig mit­ver­sorgt wird oder umgekehrt.

Das Land der Dichter und Denker

Wün­schenswert wäre natürlich, dass alle in Deutschland auch wirklich die gleiche Sprache sprechen, nämlich Deutsch und diese auch wirklich beherr­schen, bietet diese doch unge­heure Aus­drucks­mög­lich­keiten. Nicht von ungefähr kamen in den letzten 300 Jahren aus allen sons­tigen Ländern dieser Erde zusammen nicht so viele bedeu­tende Denker wie aus dem deutsch­spra­chigen Raum alleine, dem Land der Dichter und Denker: Gott­fried Wilhelm Leibniz, Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Carl Friedrich Gauß, Arthur Scho­pen­hauer, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey, Gottlob Frege, Albert Ein­stein, Werner Hei­senberg, Edmund Husserl, Max Scheler, Karl Jaspers, Martin Heid­egger, Ludwig Witt­gen­stein und Karl R. Popper (beide Öster­reich), Max Hork­heimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Hans Albert, Jürgen Habermas, Peter Slo­terdijk, um nur einige zu nennen.

Wenn auch die deutsche Sprache viel­leicht nicht so charmant klingt wie z.B. die fran­zö­sische, nicht so prä­gnant wie die eng­lische, so bietet sie doch ganz besonders dif­fe­ren­zierte Aus­drucks­mög­lich­keiten, die gerade das tief­sinnige Nach­denken ermög­licht und zu begüns­tigen scheint. Der Geist der Menschheit hat sich vor allen Dingen in zwei Ländern wie nir­gends sonst ver­dichtet: in der Antike in Grie­chenland, in der Neuzeit in Deutschland.

Wün­schenswert wäre auch, dass es ein gemein­sames Bewusstsein gibt für die eigene, gemeinsame Tra­dition und Kultur, ins­be­sondere für die deutsche Lite­ratur und Geschichte. Diese Dinge sind nicht nur für die eigene Iden­ti­täts­bildung wichtig, sondern auch für das Zusam­men­ge­hö­rig­keits­gefühl. Und ohne ein Zusam­men­ge­hö­rig­keits­gefühl kann keine Gemein­schaft auf Dauer gedeihen.

III. Men­schen schließen sich zu immer grö­ßeren Ein­heiten zusammen

Men­schen schließen sich also seit Urzeiten zu Ein­heiten zusammen und diese Ein­heiten werden immer größer. Die nächst­größere Einheit wäre ein ver­eintes Europa. Auch Europa ver­bindet eine gemeinsame Kultur, aus­gehend von der grie­chisch-römi­schen Antike, die dann in Ver­bindung mit dem Chris­tentum unser gesamtes Denken bis heute maß­geblich grund­gelegt hat, ein Denken, das dann nach der antiken grie­chi­schen Auf­klärung im 18. Jahr­hundert in eine zweite Auf­klärung mündete, welche das Feu­dal­system abschaffte und die Men­schen­rechte pro­kla­mierte, ein Denken, an dem sich die gesamte Welt zunehmend ori­en­tiert und das in vielem als Maßstab, Richt­schnur und Vorbild gilt.

Eine span­nende Frage ist, inwieweit der geistige Horizont des Men­schen mit dieser äußeren Ent­wicklung hin zu großen Ein­heiten Schritt halten kann. Es zeigt sich z.B., dass unser mora­li­sches Emp­finden bei Men­schen, die uns näher sind, ganz anders aus­ge­prägt ist, als bei Men­schen, die wir nicht per­sönlich kennen und die weiter weg sind. Die Aufgabe wird hier sein, dass aus der ursprüng­lichen Familien- und Grup­pen­moral ein Ethos ent­steht, der sich auf alle Men­schen und dann im nächsten Schritt auch auf emp­fin­dungs­fähige Tiere suk­zessive aus­weitet. Manche Men­schen sind hier schon viel weiter als andere. Aber das ist wohl bei jeder Ent­wicklung so.

Und es wird auch darum gehen müssen, die Unter­schiede in den Lebens­be­din­gungen der Men­schen auf der Erde suk­zessive zu redu­zieren – nicht völlig ein­zu­ebnen, Unter­schiede wird es immer geben -, aber diese eben zu ver­ringern, damit es nicht immer wieder zu rie­sigen Flücht­lings­strömen kommt.

Ver­schiedene „Wirs“

Letztlich bilden natürlich alle Men­schen dieses Pla­neten eine Gemein­schaft. Wenn wir die Lebens­be­din­gungen der Erde z.B. durch einen ato­maren Krieg zer­stören oder wenn ein großer Meteor auf der Erde ein­schlägt, wie dies in der Erd­ge­schichte schon mehrfach der Fall war, dann kann dies im Extremfall alles mensch­liche Leben auf der Erde aus­lö­schen. Insofern bilden wir alle zusammen von Europa bis Aus­tralien, von Grönland bis zur Ant­arktis eine Gemeinschaft.

Es gibt also ver­schiedene ‚Wirs‘ gleichsam kon­zen­tri­schen Kreisen, denen der Ein­zelne allen angehört. Ich lebe derzeit in Hamburg. Hamburg gehört zu Deutschland. Deutschland liegt im Herzen Europas. Und Europa gehört zur Weltgemeinschaft.

Und um die Brücke zur ein­gangs ange­führten Frühzeit zu schlagen: Moderne gene­tische Unter­su­chungen deuten ganz massiv darauf hin, dass alle heute lebenden Men­schen Nach­fahren sind einer relativ kleinen Gruppe Men­schen, die vor einigen zig Jahr­tau­senden in Afrika lebten (Out-of-Africa-Theorie, genauer: Out-of-Africa III). Es könnte sogar sein, dass alle heute lebenden 7,4 Mil­li­arden Men­schen von einer ganz bestimmten Frau abstammen, dass es also in gewissem Sinne tat­sächlich eine Eva gab (die soge­nannte Mito­chon­driale Eva), die, so schätzt man aktuell, vor ca. 200.000 Jahren lebte. Das wäre aus­ge­sprochen jung, wenn man bedenkt, dass die bislang ältesten Urmen­schen­funde auf zwei bis drei Mil­lionen Jahre datiert werden! Von all den Linien des Stamm­baums des Men­schen wäre also nur eine einzige übrig geblieben und unsere Ur-Mutter wäre nicht Mil­lionen Jahre alt, sondern „nur“ 0,2 Mil­lionen Jahre.

Demo­kratie braucht eine demo­kra­tische Tra­dition und ein inneres Band der Bürger

Bio­lo­gisch gesehen sind wir also alle Brüder und Schwestern, auch wenn wir nicht immer die gleiche Sprache sprechen, nicht einmal in Deutschland, genauer: auch wenn wir uns gegen­seitig nicht immer ver­stehen. Der Mensch ist jedoch im Gegensatz zum Tier und zur Pflanze kein rein bio­lo­gi­sches, sondern vor allem ein Kultur- und Geist­wesen. Und die Kul­turen, die Geis­tes­ge­schichten und auch die Moral- und Wert­vor­stel­lungen dieser Kul­turen unter­scheiden sich beachtlich. Auf­fällig ist auch, dass selbst­be­stimmte poli­tische Gemein­wesen nur von Euro­päern ent­wi­ckelt wurden. Offen­sichtlich müssen Men­schen die inneren Vor­aus­set­zungen hierfür mit­bringen. Sie müssen zu poli­ti­schen Wesen, zu Staats­bürgern erst erzogen werden. Niemand wusste das besser Platon und Aris­to­teles und dann Rousseau. Dazu braucht es aber eine gewachsene Tra­dition, die das von Gene­ration zu Gene­ration wei­tergibt. Wo eine solche Tra­dition gar nicht vor­handen, kann sich das nur schwerlich kurz­fristig entwickeln.

Auch hat sich gezeigt, dass Demo­kratien, dass Selbst­be­stimmung von Gemein­wesen durch die Staats­bürger bislang immer nur funk­tio­niert hat, wenn diese nicht zu groß wurden. In der kleinen Schweiz klappt dies aus­ge­zeichnet, hat man den Ein­druck. Hier sind sogar starke Ele­mente der direkten Demo­kratie ver­wirk­licht. Deutschland mit rund 80 Mil­lionen Staats­bürgern dürfte grö­ßen­mäßig gerade noch demo­kra­tisch regierbar sein. Bei der EU mit über 500 Mil­lionen Men­schen und X ver­schie­denen Sprachen und Men­ta­li­täten scheint dies auf absehbare Zeit nicht möglich zu sein. Big ist wohl nicht immer beau­tiful und bigger nicht immer more beautiful.

Inneres statt äußeres Wachstum

Nein, Deutschland scheint derzeit vielmehr eine Größe zu haben, die es gerade so noch erlaubt, so etwas wie eine Gemein­schaft zu bilden, die nicht durch eine Gewalt von oben, sondern durch ein inneres Zusam­men­ge­hö­rig­keits­gefühl zusam­men­ge­halten wird. Dieses Gefühl gilt es zu stärken, nicht zu schwächen. Wachstum kann auch bedeuten, nicht immer größer zu werden, sondern in einem ersten Schritt innerlich mehr zusam­men­zu­wachsen, mehr Soli­da­rität ent­stehen zu lassen. Dies scheint mir die primäre Aufgabe der nächsten Jahre und Jahr­zehnte zu sein. Und dies könnte die Basis sein für mehr Demo­kratie und mehr Selbst­be­stimmung (Auto­nomie) sowohl des Ein­zelnen als auch unseres Gemeinwesens.

In einem zweiten Schritt könnte dann ein Wachstum nach außen statt­finden. Aber erst dann, wenn a) die Men­ta­li­täten sich stark ange­nähert haben und b) die Demo­kra­tie­fä­higkeit sich bei denen, die dazu kommen wollen, sich ent­spre­chend ent­wi­ckelt hat. Ich finde, das wäre ein schönes gemein­sames Ziel. Und ein solches brauchen wir. Denn:

„Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der richtige.“ – Lucius Annaeus Seneca

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Bild: Die Schule von Athen (1510), Raphael [Public domain], via Wiki­media Commons

Jürgen Fritz / juergenfritz.com