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Ober­grenze & Co.: CDU und SPD inter­pre­tieren Ver­hand­lungs­er­geb­nisse kom­plett gegensätzlich

Das Son­die­rungs­papier enthält zahl­reiche For­mu­lie­rungen, unter denen sich jeder vor­stellen kann, was er will – viel­leicht auch gar nichts. Ein mar­kantes Bei­spiel dafür sind die For­mu­lie­rungen zur Obergrenze.
(Von Dr. Rainer Zitelmann)
Die CSU behauptet, sie habe ihre Ober­grenze bei den Son­die­rungs­ge­sprächen durch­ge­setzt. Laut Martin Schulz sagen die For­mu­lie­rungen in der Ver­ein­barung jedoch rein GAR NICHTS. In dem Papier heißt es: „Bezogen auf die durch­schnitt­lichen Zuwan­de­rungs­zahlen, die Erfah­rungen der letzten zwanzig Jahre sowie mit Blick auf die ver­ein­barten Maß­nahmen und den unmit­telbar steu­er­baren Teil der Zuwan­derung – das Grund­recht auf Asyl und die GFK bleiben unan­ge­tastet – stellen wir fest , dass die Zuwan­de­rungs­zahlen (inklusive Kriegs­flücht­linge, vor­über­gehend Schutz­be­rech­tigte, Fami­li­en­nach­zügler, Relo­cation, Resett­lement, abzüglich Rück­füh­rungen und frei­wil­ligen Aus­reisen künf­tiger Flücht­linge und ohne Erwerbs­mi­gration) die Spanne von jährlich 180 000 bis 220 000 nicht über­steigen werden.“
Schulz: Wir haben gar nichts gesagt
Die CSU behauptet, sie habe damit ihre For­derung nach einer Ober­grenze durch­ge­setzt. Nur das Wort werde ver­mieden, inhaltlich sei es jedoch genau dies. Beleg: Es werde die Zahl von 180.000 bis 220.000 genannt, sodass die CSU-Ziel­größe von 200.000 genau in der Mitte liegt. Martin Schulz wider­spricht jedoch in einem Interview in der FRANK­FURTER ALL­GE­MEINEN SONN­TA­GES­ZEITUNG. Es gebe keine Ober­grenze. Auch keine Ober­grenze light. „Das ist falsch. Ich emp­fehle, den Text genau zu lesen. Da steht: Wir stellen fest, dass es in den letzten Jahren, außer 2015, eine Zahl von jeweils 180.000 bis 220.000 Flücht­linge gegeben hat. Die Union wollte schreiben: Das soll auch in Zukunft so sein. Das haben wir abgelehnt.“
Nun, das ist eine etwas eigen­artige Deutung der deut­schen Sprache. Denn in dem Papier heißt es, „dass die Zuwan­de­rungs­zahlen… die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht über­steigen werden.“ Schulz meint, es sei nur eine unver­bind­liche Fest­stellung über Zahlen der Ver­gan­genheit getroffen worden, ohne jede Bedeutung für die Zukunft. Auch im Fern­seh­in­terview unter­strich er, dass die Zahl rein gar nichts sage und nur eine Fest­stellung über die Ver­gan­genheit sei.
Frage: Wenn schon einen Tag nach Ver­ab­schiedung des Papiers beide Par­teien (SPD und CSU, die CDU hat ja ohnehin zu keinem Thema eine Meinung) genau das Gegenteil her­aus­lesen: werden die Funk­tionäre und die Mit­glieder der SPD dann zustimmen? Und was hieße das für Koalitionsverhandlungen?
Würde die CSU der Deutung von Schulz zustimmen, bräuchte sie bei den Bay­ern­wahlen gar nicht erst antreten. Umge­kehrt: Wenn Schulz zugeben würde, dass eine Ober­grenze fest­ge­schrieben wird, würde dies die Chancen der Jusos und anderer GroKo-Gegner in der SPD noch einmal erhöhen – mit dem Ergebnis, dass es gar nicht erst zu Koali­ti­ons­ver­hand­lungen käme.
Ich selbst habe dazu ohnehin eine ganz andere Meinung: Deutschland hat seit 2015 so viele Zuwan­derer auf­ge­nommen, dass wir uns die nächsten Jahre darauf kon­zen­trieren sollten, wie wir mit den daraus ent­ste­henden Pro­blemen zurecht kommen, statt uns Gedanken zu machen, wie wir in der nächsten Legis­la­tur­pe­riode noch einmal 800.000 aufnehmen.
Son­die­rungs­papier extrem schwammig – Bei­spiel: Mietpreisbremse
Auch in zahl­reichen anderen Punkten ist das Papier extrem schwammig und mit der heißen Nadel gestrickt. Ich habe das für den Bereich über­prüft, von dem ich am meisten ver­stehe – Woh­nungs­po­litik und Miet­recht. Dort heißt es bei­spiels­weise, man wolle „durch Schaffung gesetz­licher Grund­lagen die Ein­führung und Anwendung des ‚qua­li­fi­zierten Miet­spiegels’ ver­breitern“. Was das konkret heißen soll, kann man nur raten. Es ist zu ver­muten, dass die SPD dabei die Aus­weitung des Bezugs­zeit­raumes der orts­üb­lichen Ver­gleichs­miete von vier auf mög­li­cher­weise acht Jahre im Auge haben könnte, was dazu führen würde, dass das Niveau der orts­üb­lichen Ver­gleichs­miete ein­ge­froren wird oder sinken könnte. Fak­tisch würde das eine erheb­liche Ver­schärfung der Miet­preis­bremse bedeuten. Zudem soll, so heißt es in dem Papier, eine „Ver­län­gerung des Bin­dungs­zeit­raumes für einen qua­li­fi­zierten Miet­spiegel geprüft werden“. Die Begriff­lichkeit „Bin­dungs­zeitraum“ gibt es jedoch im Miet­recht im Zusam­menhang mit Miet­spiegeln gar nicht, so dass es schwer fällt, zu erraten, was viel­leicht gemeint sein könnte.
Das sind nur Bei­spiele für ein unaus­ge­go­renes Papier, das in erster Linie dazu dienen soll, die Funk­tionäre der SPD zur Zustimmung zu bewegen. Ob das ange­sichts der Tat­sache, dass die wich­tigen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Neid­themen (Erhöhung des Spit­zen­steu­er­satzes, Bür­ger­ver­si­cherung) fehlen, gelingen wird, erscheint aus meiner Sicht kei­neswegs sicher. Schon wird von der Hessen-SPD gefordert, dass nach­ver­handelt werden solle.
Dr. Rainer Zitelmann  / TheEuropean.de