Kapi­ta­lismus und Sozia­lis­mus­af­fi­nität — Ein Interview mit Dr. Rainer Zitelmann

Viele Men­schen, die den Sozia­lismus erlebt haben, trauern ihm nach. In Ost­deutschland sagen laut Umfragen immer noch die meisten Men­schen: „Der Sozia­lismus ist eine gute Idee, die nur schlecht aus­ge­führt wurde“. Übrigens sagten dies in den 50er-Jahren – das zeigen Mei­nungs­um­fragen – auch viele Men­schen in der Bun­des­re­publik über den Nationalsozialismus.
Ein Interview mit Dr. Rainer Zitelmann
“Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 30 Jahren noch ist, hat kein Hirn.” Woran liegt das?
Zitelmann: Ich habe den Spruch schon oft gehört und sogar selbst schon mal zitiert. Aber wenn man mal einen Moment darüber nach­denkt, ist das doch ein großer Unsinn: Erstens gibt es viele junge Men­schen, die nicht Sozia­listen sind und dennoch ein großes Herz haben. Zweitens weiß ich nicht, warum es ein Zeichen für ein großes Herz sein soll, wenn man einer Ideo­logie anhängt, in deren Namen im 20. Jahr­hundert etwa 100 Mil­lionen Men­schen umge­kommen sind. Und drittens bin ich ein tole­ranter Mensch und lehne zwar heute sozia­lis­ti­sches Denken jed­weder Art strikt ab, würde jedoch trotzdem nicht jeden Sozia­listen als hirnlos beschimpfen. Leider schützt auch Intel­ligenz nicht vor sozia­lis­ti­schem Denken.
Warum sind junge Men­schen, die den Sozia­lismus nicht erlebt haben, so sozialismusaffin?
Zitelmann: Auch viele Men­schen, die den Sozia­lismus erlebt haben, trauern ihm nach. In Ost­deutschland sagen laut Umfragen immer noch die meisten Men­schen: „Der Sozia­lismus ist eine gute Idee, die nur schlecht aus­ge­führt wurde“. Übrigens sagten dies in den 50er-Jahren – das zeigen Mei­nungs­um­fragen – auch viele Men­schen in der Bun­des­re­publik über den Natio­nal­so­zia­lismus. Das Argument, dass der Sozia­lismus gescheitert ist und viel Leid über die Men­schen gebracht hat, zählt für dessen Anhänger nicht. Sie ent­gegnen regel­mäßig, dies sei ja nicht der „richtige“ und „wahre“ Sozia­lismus gewesen. Was ich nicht ver­stehen kann: Der Sozia­lismus wurde doch in so vielen Vari­anten aus­pro­biert – eben gerade scheitert der „Sozia­lismus im 21. Jahr­hundert“ nach dem Rezept eines Hugo Chávez in Vene­zuela kläglich. In meinem Buch zeige ich das aus­führlich, und zitiere Leute wie Sahra Wagen­knecht und füh­rende ame­ri­ka­nische Links­in­tel­lek­tuelle, die Chávezs Wirt­schafts­po­litik als vor­bild­liches Modell priesen. Vene­zuela ist ja nur das aktu­ellste Bei­spiel. Aus­nahmslos alle sozia­lis­ti­schen Expe­ri­mente sind in der Geschichte gescheitert: In Russland hat man es anders ver­sucht als in Maos China, in Kuba anders als in Jugo­slawien, in der DDR anders als in Nord­korea, in Albanien anders als in Rumänien. Und dann gab es die vielen Vari­anten des „afri­ka­ni­schen Sozia­lismus“, die das Elend der Men­schen auf dem Kon­tinent nur ver­größert haben. Immer wieder ging es schief. Auch alle Formen des „demo­kra­ti­schen Sozia­lismus“ sind wirt­schaftlich kläglich gescheitert, wie ich in meinem Buch aus­führlich an den Bei­spielen von Groß­bri­tannien (60er- und 70-er Jahre), Schweden (70er- und 80er-Jahre) und Chile (Anfang der 70er-Jahre) zeige. Die Leute, die immer noch ein neues Expe­riment machen wollen, erinnern mich an die Frau, die schon 15 Mal einen Kuchen gebacken hat, das Rezept immer wieder leicht abwan­delte – aber die Gäste mussten sich jedes Mal über­geben. Irgendwann muss man doch ein­sehen, dass das Rezept an sich Murks ist, egal wie man es abwandelt.
In Ihrem neuen Buch “Kapi­ta­lismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung” plä­dieren Sie für mehr Kapi­ta­lismus und weniger Sozia­lismus. Woher kommt die Illusion seiner bes­seren Gesellschaft?
Zitelmann: Der Grund­fehler liegt ja darin, dass sich Intel­lek­tuelle im Kopf eine ideale Gesell­schaft aus­denken und dann die Wirk­lichkeit daran messen. Da muss die Wirk­lichkeit immer schlecht abschneiden, weil es Unge­rech­tigkeit und Unvoll­kom­men­heiten gibt, die man sich in den Kopf­kon­struk­tionen der idealen Gesell­schaft natürlich einfach so „weg­denken“ kann. Das Neue an meinem Buch ist daher, dass ich einen ganz anderen Ansatz ver­folge, nämlich einen wirt­schafts­his­to­ri­schen. Ich ver­zichte auf jedwede „grund­sätz­liche“ Argu­men­tation und betrachte die Geschichte einfach als ein großes Expe­ri­men­tierfeld, bei dem sich in der Wirk­lichkeit gezeigt hat, was funk­tio­niert und was nicht. Das heißt: Ich ver­gleiche nicht ein Kopf­kon­strukt mit der Rea­lität, sondern ich ver­gleiche Dinge, die man wirklich ver­gleichen kann, also z.B.: Nord- und Süd­korea, die Bun­des­re­publik und die DDR, Vene­zuela und Chile. Oder auch die Ver­hält­nisse in Maos China und die Aus­wir­kungen der kapi­ta­lis­ti­schen Reformen, die Deng Xiaoping nach Maos Tod umge­setzt hat. Gerade das Bei­spiel Chinas ist schlagend, denn dort ver­hun­gerten noch Ende der 50er-Jahre 45 Mil­lionen Men­schen als Folge des sozia­lis­ti­schen Expe­ri­mentes des „Großen Sprungs nach vorne“. In den letzten Jahr­zehnten wurden Staats­ein­fluss und Plan­wirt­schaft in China zunehmend redu­ziert, dem Markt wurde mehr Raum gegeben und das Pri­vat­ei­gentum an Pro­duk­ti­ons­mitteln ein­ge­führt. Ich beschreibe diesen Prozess sehr aus­führlich im ersten Kapitel meines Buches. Das Ergebnis war, dass Hun­derte Mil­lionen Chi­nesen der Armut ent­ronnen und in die Mit­tel­schicht auf­ge­stiegen sind.
Sie sprechen über Afrika: Alle reden von Ent­wick­lungs­hilfe, ist das der richtige Weg?
Zitelmann: Ich ant­worte mal mit Abdoulaye Wade, der 2000 bis 2012 Prä­sident von Senegal, war: „Ich habe noch nie erlebt, dass sich ein Land durch Ent­wick­lungs­hilfe oder Kredite ent­wi­ckelt hat. Länder, die sich ent­wi­ckelt haben – in Europa, in Amerika; oder auch in Japan oder asia­tische Länder wie Taiwan, Korea und Sin­gapur -, haben alle an den freien Markt geglaubt. Das ist kein Geheimnis. Afrika hat nach der Unab­hän­gigkeit den fal­schen Weg gewählt.“ Dambisa Moyo, die in Sambia geboren wurde, in Harvard stu­dierte und in Oxford pro­mo­viert wurde, hat die Ent­wick­lungs­hilfe der reichen Länder noch schärfer kri­ti­siert: In den ver­gan­genen 50 Jahren wurde im Rahmen der Ent­wick­lungs­hilfe über eine Billion Dollar an Hilfs­leis­tungen von den reichen Ländern nach Afrika über­wiesen. Sie fragt: „Geht es den Afri­kanern durch die mehr als eine Billion Dollar Ent­wick­lungs­hilfe, die in den letzten Jahr­zehnten gezahlt wurden, tat­sächlich besser?“ Ihre Antwort: „Nein, im Gegenteil: Den Emp­fängern der Hilfs­leis­tungen geht es wesentlich schlechter. Ent­wick­lungs­hilfe hat dazu bei­getragen, dass die Armen noch ärmer wurden und dass sich das Wachstum ver­lang­samte. Die Vor­stellung, Ent­wick­lungs­hilfe könne sys­te­mische Armut mindern und habe dies bereits getan, ist ein Mythos. Mil­lionen Afri­kaner sind heute ärmer – nicht trotz, sondern auf­grund der Ent­wick­lungs­hilfe“, so Moyo.
Ich nenne im zweiten Kapitel meines Buches zahl­reiche Fakten, die das belegen. William Eas­terly, Pro­fessor für Öko­nomie und Afri­ka­studien an der New York Uni­versity, hält Ent­wick­lungs­hilfe für weit­gehend nutzlos, oft sogar kon­tra­pro­duktiv. Afrika wird nur dann erfolg­reich sein, wenn es sich ein Bei­spiel an asia­ti­schen Ländern nimmt.
Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren, was bleibt von ihm?
Zitelmann: Als ich jung war, war ich Marxist. Als Teenager habe ich alle bedeu­tenden Werke von Marx und Engels regel­recht ver­schlungen und alles schriftlich zusam­men­ge­fasst, sogar die drei Bände des „Kapital“. Damals war ich fas­zi­niert von Marx. Aber anders als viele Intel­lek­tuelle halte ich Marx heute nicht für einen großen Denker. Es gibt ja nur zwei Mög­lich­keiten, Marx zu beur­teilen: Ent­weder haben ihn sämt­liche seiner Anhänger in den ver­gan­genen 100 Jahren kom­plett miss­ver­standen. Das steckt im Grunde hinter der These der­je­nigen, die meinen, bislang seien seine „rich­tigen“ Ideen nir­gendwo umge­setzt wurden. Oder aber die Ideen taugen einfach nicht zur Schaffung einer „bes­seren Gesell­schaft“. Tat­sache ist jeden­falls, dass kein ein­ziger Staat, der sich auf Karl Marx berufen hat, das Los der Men­schen ver­bessert hat, sondern dass alle – und zwar aus­nahmslos – Not und Armut der Men­schen ver­mehrt haben. Es wird viel von Marx gesprochen. Ich emp­fehle die Bücher von Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises und Milton Friedman. Das waren aus meiner Sicht viel größere und bedeu­tendere Denker als Karl Marx.
Ist die Finanz­krise eine Krise des Kapitalismus?
Zitelmann: Das ist eine der ganz großen Legenden, mit denen ich im 9. Kapitel meines Buches auf­räume. Und wahr­scheinlich ist es sogar die gefähr­lichste Legende. Sie besagt, die Finanz­krise sei ein Ergebnis vom „Markt­ver­sagen“ und zu viel Dere­gu­lierung gewesen. Ich lege aus­führlich dar, warum das nicht stimmt. Ich nenne hier nur zwei ent­schei­dende Gründe für die Finanz­krise: Erstens die Politik der Zen­tral­banken, die massiv in das Wirt­schafts­ge­schehen ein­ge­griffen haben und ein­greifen, statt sich auf ihre eigent­liche Aufgabe, also die Bewahrung der Geld­wert­sta­bi­lität, zu beschränken. Ich weise in meinem Buch detail­liert nach, wie die Politik der ame­ri­ka­ni­schen Fed zuerst zur New Economy-Blase und dann – nach deren Platzen – zur Haus­preis­blase geführt hat. Und derzeit werden weitere Blasen auf­gebaut. Eine zweite Ursache der Finanz­krise waren die poli­ti­schen Vor­gaben der US-Regierung, ganz massiv Kredite an „Min­der­heiten“ und boni­täts­schwache Gruppen aus­zu­geben, die ohne diese poli­ti­schen Vor­gaben niemals Kredite bekommen hätten. Ohne diese poli­ti­schen Vor­gaben hätte es keine „sub­prime-Kredite“ und damit auch keine Haus­preis­blase gegeben.
Was macht Süd­korea richtig und Nord­korea falsch?
Zitelmann: Ich finde, gerade das Bei­spiel Nord- und Süd­korea eignet sich sehr gut, um zu zeigen, was der Kapi­ta­lismus leistet. Bevor Korea 1948 in einen kapi­ta­lis­ti­schen Süden und einen kom­mu­nis­ti­schen Norden geteilt wurde, war es eines der ärmsten Länder der Welt, ver­gleichbar mit Afrika südlich der Sahara. Das blieb bis Anfang der 60er-Jahre so. Heute steht das kapi­ta­lis­tische Süd­korea mit einem Brut­to­in­lands­produkt pro Kopf von etwa 28.000 Dollar vor Ländern wie Spanien, Russland, Bra­silien oder China und ist die acht­stärkste Export­nation der Welt. Pro­dukte von korea­ni­schen Unter­nehmen wie Samsung, Hyundai und LG sind weltweit beliebt. Schät­zungen für Nord­korea beziffern das Brut­to­in­lands­produkt auf 583 Dollar pro Kopf. Immer wieder sterben Tau­sende Nord­ko­reaner bei Hun­gers­nöten. Deut­licher kann man wohl nicht die Über­le­genheit eines kapi­ta­lis­ti­schen gegenüber einem kom­mu­nis­ti­schen Wirt­schafts­system zeigen.
Warum scheitern Ideo­logien wie der Sozia­lismus – oder kommt hier noch das große Comeback?
Zitelmann: Ich erinnere mich noch, als Anfang der 90er-Jahre unter dem Ein­druck des Zusam­men­bruchs des Sozia­lismus die These vom „Ende der Utopien“ oder gar vom „Ende der Geschichte“ ver­treten wurde. Ich habe mich schon damals dagegen gewandt. Der Sozia­lismus kann noch so oft scheitern, es wird immer wieder Men­schen geben, die sagen: „Pro­bieren wir es noch einmal“. Von Hugo Chavéz und seinen Bewun­derern im Westen habe ich schon gesprochen. Sogar junge Ame­ri­kaner haben heute eine starke Affi­nität zu anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Ideen. Eine im Jahr 2016 durch­ge­führte Umfrage ergab, dass 45 Prozent der Ame­ri­kaner zwi­schen 16 und 20 für einen Sozia­listen stimmen würden und 20 Prozent sogar für einen Kom­mu­nisten. Nur 42 Prozent der jungen Ame­ri­kaner sprachen sich für eine kapi­ta­lis­tische Wirt­schafts­ordnung aus (ver­glichen mit 64 Prozent der Ame­ri­kaner über 65 Jahren). Erschre­ckend ist übrigens, dass bei der gleichen Umfrage ein Drittel der jungen Ame­ri­kaner meinte, unter George W. Bush seien mehr Men­schen getötet worden als unter Josef W. Stalin. Bei einer Umfrage von Infratest dimap in Deutschland 2014 stimmten 42 Prozent der Deut­schen (in Ost­deutschland 59 Prozent) der Antwort zu, der „Sozialismus/Kommunismus ist eine gute Idee, die bisher nur schlecht aus­ge­führt wurde“. Schauen Sie doch mal, was die LINKE, aber auch die Jusos in Deutschland wollen: Sie nennen das demo­kra­ti­scher Sozia­lismus, also etwas, das schon so oft kläglich gescheitert ist.
Die Haupt­gefahr geht aller­dings derzeit nicht von denen aus, die sich zum Sozia­lismus bekennen. Die Haupt­gefahr sehe ich darin, dass der Staat und die Zen­tral­banken immer stärker regu­lierend ein­greifen und Markt­ge­setze aus­hebeln. In Deutschland können wir das am Bei­spiel der Ener­gie­wirt­schaft gut beob­achten. Und in den USA stellt ein Donald Trump derzeit den Frei­handel massiv in Frage und setzt auf Protektionismus.
Warum mögen eigentlich Intel­lek­tuelle den Kapi­ta­lismus nicht?
Zitelmann: Das aus­führ­lichste Kapitel meines Buches behandelt genau diese Frage. Mir per­sönlich ist dieses Kapitel am wich­tigsten. Denn es ist ja erklä­rungs­be­dürftig, dass ein System, das weltweit mehr zur Armuts­be­kämpfung und Wohl­stands­mehrung bei­getragen hat als jedes andere System, gerade von Intel­lek­tu­ellen so sehr kri­ti­siert und bekämpft wird. Die Ursachen dafür sind viel­fältig. Intel­lek­tuelle haben eine Affi­nität zu „kon­stru­ierten“ Sys­temen, weil ihre Tätigkeit ja genau darin besteht, Gedan­ken­ge­bäude zu kon­stru­ieren. Der Kapi­ta­lismus ist genau das Gegenteil. Er ist eine spontan ent­standene Ordnung, ähnlich wie die Sprachen, die sich ja auch niemand aus­ge­dacht hat. Und dann muss man natürlich einfach sehen, dass hier zwei Eliten – also die Bil­dungs­elite und die öko­no­mische Elite – im Wett­bewerb stehen. Intel­lek­tuelle ver­stehen nicht, warum ein kleiner Unter­nehmer, der nicht viele Bücher gelesen und nicht stu­diert hat, dafür aber eine pfiffige Idee hatte, oft wesentlich mehr ver­dient, ein schö­neres Haus hat, ein schö­neres Auto und viel­leicht sogar die schönere Frau. Für jemanden, nach dessen Vor­stellung der­jenige oben sein müsste, der die meisten Bücher gelesen hat, scheint eine Welt, in der das nicht so ist, wie auf den Kopf gestellt. Er sagt sich wohl: „Wenn der Markt dazu führt, dass sogar ein Phi­losoph weniger ver­dient als der unge­bildete Fran­chise­nehmer von sieben McDonald’s‑Restaurants, dann versagt der Markt offenbar, dann ist der Markt unfair und unge­recht. Und die Gerech­tigkeit muss min­destens teil­weise wieder her­ge­stellt werden, indem man die Reichen kräftig besteuert.“ Intel­lek­tuelle ver­ab­so­lu­tieren eine ganz bestimmte Art des Lernens, das explizite, aka­de­mische Lernen. Unter­nehmer lernen auf eine ganz andere Art, man nennt das impli­zites Lernen. Dafür gibt es jedoch weder Zeug­nisse noch aka­de­mische Grade, jedoch sehr wohl öko­no­mische Beloh­nungen. Mir ist das klar geworden bei meiner zweiten Dis­ser­tation über die „Psy­cho­logie der Super­reichen“ als ich erkannte, dass aka­de­mische Bildung für Unter­nehmer eine unter­ge­ordnete Rolle spielt und dafür das implizite Lernen, das zu impli­zitem Wissen (manche sprechen von Bauch­gefühl) führt eine viele ent­schei­dendere Rolle spielt. Das ver­stehen die meisten Intel­lek­tu­ellen nicht. Für sie zählt die Leistung eines solchen Men­schen einfach nicht. Ich hatte mal ver­sucht, einen Wiki­pedia-Eintrag über den bedeu­tendsten deut­schen Immo­bi­li­en­in­vestor in den USA zu erstellen, der dort sehr erfolg­reich 15 Mil­li­arden Dollar inves­tiert hat. Diesen Investor befanden die Wiki­pedia-Admin­stra­toren für unwürdig bzw. unwichtig, während jeder kleine Fach­hoch­schul­pro­fessor, der ein paar Bücher oder Auf­sätze publi­ziert hat, einen Eintrag erhält, was dessen unge­heure Wich­tigkeit unterstreicht.
Was zeichnet für Sie einen “guten” Kapi­ta­lismus aus?
Zitelmann: Den „reinen“ Kapi­ta­lismus gibt es nir­gendwo auf der Welt, ebenso wenig wie den reinen Sozia­lismus. In der Rea­lität gibt es nur Misch­systeme. Deshalb halte ich auch nicht so viel von liber­tären oder anar­cho­ka­pi­ta­lis­ti­schen Utopien eines „rein“ kapi­ta­lis­ti­schen Systems. Zwar wäre mir eine solche Utopie wesentlich sym­pa­thi­scher als eine sozia­lis­tische Utopie, aber ich halte nun einmal generell nicht so viel von Kopf­kon­strukten einer idealen Welt. Ich beob­achte einfach, dass sich in den real exis­tie­renden Misch­sys­temen die Lage der Wirt­schaft und der Men­schen bessert, wenn der Kapi­ta­lismus-Anteil erhöht und der Staats­anteil redu­ziert wird. Das Bei­spiel Chinas habe ich ja schon genannt. Aber schauen Sie mal auf Schweden: Das war in den 70er- und 80er-Jahren ziemlich sozia­lis­tisch und ist damit an die Wand gefahren. Die Schweden haben das erkannt und ab den 90er-Jahren wieder mehr auf den Markt als auf den Staat gesetzt. Das Ergebnis war, dass die gra­vie­renden wirt­schaft­lichen Pro­bleme Schwedens gelöst wurden. Das gleiche geschah durch die Reformen von Mar­garet Thatchter und Ronald Reagan in den 80er-Jahren, auf die ich sehr aus­führlich in meinem Buch eingehe.
Wie hat der Kapi­ta­lismus Ihr Leben geprägt, von links-außen zum Unternehmer?
Zitelmann: In meiner Jugend war ich Anti­ka­pi­talist, so wie viele junge Men­schen und Intel­lek­tuelle. Später habe ich mich davon gelöst. Schließlich bin ich selbst Unter­nehmer und Investor geworden, also Kapi­talist. Wenn Sie mich fragen, ob ich mehr Men­schen geholfen habe durch meine „Rote Zelle“ in den 70er-Jahren oder mehr Men­schen, als ich im Jahr 2000 meine Firma gegründet und damit zum Bei­spiel 50 Arbeits­plätze geschaffen habe, dann liegt die Antwort wohl auf der Hand.
Sie kri­ti­sieren in Ihrem Buch immer wieder den Kapi­ta­lis­mus­kri­tiker Piketty und haben nichts dagegen, dass die – auch hier in Deutschland, ins­be­sondere von den Linken, kri­ti­sierte Schere zwi­schen arm und reich immer größer wird. Was ist ihr Argument dabei? Eine Ver­grö­ßerung er sozialen Schere ist doch im höchsten Grade ungerecht.
Zitelmann: Für Kapi­ta­lis­mus­kri­tiker wie Piketty ist die Wirt­schaft ein Null­sum­men­spiel, bei dem die einen (die Reichen) gewinnen, was die anderen (die Mit­tel­schicht und die Armen) ver­lieren. Aber so funk­tio­niert die Markt­wirt­schaft nun einmal nicht. Kapi­ta­lis­mus­kri­tiker beschäf­tigen sich immer mit der Frage, wie der Kuchen ver­teilt wird; ich beschäftige mich damit, unter welchen Bedin­gungen der Kuchen größer oder kleiner wird.
Ich mache in meinem Buch ein Gedan­ken­ex­pe­riment: Nehmen wir an, Sie lebten auf einer Insel, in der drei reiche Men­schen je 5.000 Euro besitzen und 1.000 andere nur je 100 Euro. Das Gesamt­ver­mögen der Insel­be­wohner beträgt also 115.000 Euro. Sie stünden vor fol­genden Alter­na­tiven: Das Ver­mögen aller Insel­be­wohner wird durch Wirt­schafts­wachstum doppelt so groß und wächst auf 230.000 Euro. Bei den drei Reichen ver­drei­facht es sich jeweils auf 15.000 Euro, diese besitzen zusammen nunmehr 45.000 Euro. Bei den 1.000 anderen wächst es zwar auch, aber nur um 85 Prozent – jeder hat jetzt 185 Euro. Die Ungleichheit hat sich also deutlich erhöht.
Im zweiten Fall nehmen wir die 115.000 Euro und ver­teilen sie auf alle 1.003 Insel­be­wohner gleich­mäßig, so dass jeder 114,65 Euro besitzt. Würden Sie es als Armer mit einem Aus­gangs­ver­mögen von 100 Euro vor­ziehen, in der Wachstums- oder in der Gleich­heits­ge­sell­schaft zu leben? Und was wäre, wenn durch eine Wirt­schafts­reform, die zur Gleichheit führen soll, das Gesamt­ver­mögen auf nur noch 80.000 Euro schrumpft, von denen dann jeder nur noch knapp 79,80 Euro erhält?
Natürlich kann man ein­wenden, das Beste sei, wenn sowohl die Wirt­schaft und der all­ge­meine Lebens­standard wüchsen und gleich­zeitig auch die Gleichheit zunehme. Tat­sächlich hat der Kapi­ta­lismus genau dies sogar nach den Berech­nungen von Piketty im 20. Jahr­hundert geleistet. Dennoch ist das Gedan­ken­ex­pe­riment sinnvoll, weil in der Antwort die unter­schied­lichen Wert­prä­fe­renzen deutlich werden: Wem die Erhöhung der Gleichheit der Men­schen unter­ein­ander bzw. der Abbau von Ungleichheit wich­tiger ist als die Erhöhung des Lebens­stan­dards für eine Mehrheit, wird sie anders beant­worten als der­jenige, der die Prio­ri­täten umge­kehrt setzt. Noam Chomsky, einer der füh­renden ame­ri­ka­ni­schen Links­in­tel­lek­tu­ellen, ver­tritt diesen Stand­punkt, wenn er in seinem 2017 erschie­nenen Buch „Requium für den ame­ri­ka­ni­schen Traum“ schreibt, „dass es um die Gesundheit einer Gesell­schaft umso schlechter bestellt ist, je mehr sie von Ungleichheit geprägt ist, egal ob diese Gesell­schaft arm oder reich ist“. Ungleichheit an sich sei bereits zer­stö­re­risch. Das ist Blödsinn. Ich komme noch mal auf China zurück: Die Zahl der Reichen und Super­reichen ist dort in den letzten Jahr­zehnten massiv gestiegen. Auch die Ungleichheit, gemessen im soge­nannten Gini-Index, stieg massiv. Gleich­zeitig hat sich das Los von Hun­derten Mil­lionen Chi­nesen ver­bessert, die aus bit­terer Armut in die Mit­tel­schicht auf­ge­stiegen sind. Das zeigt doch, dass die Frage, ob die Schere zwi­schen Arm und Reich aus­ein­an­dergeht – außer für
Anhänger einer Neid­phi­lo­sophie – völlig irrelevant ist. Wichtig ist doch, welches System dafür sorgt, dass es der breiten Masse besser geht. Und das ist der Kapi­ta­lismus, wie ich anhand vieler Bei­spiele in meinem Buch zeige.


Erschienen in TheEuropean.de