“Auch wir sind ein Euro-Ver­lierer”: Top-Ökonom Daniel Stelter erklärt, was Europa an Deutschland nicht versteht

„Es waren nur wenige Auszüge aus einer noch unver­öf­fent­lichten Auto­bio­grafie. Doch sie reichten, um die Gemüter zu erhitzen. Der Euro sei ein „deut­scher Käfig“, hieß es dort. Und: Deutschland habe seine Auf­fassung dessen, was seine Rolle in Europa sein solle, nach dem Ende des Natio­nal­so­zia­lismus nicht geändert. Statt mit mili­tä­ri­schen Mitteln ver­suche es, dem Rest nun wirt­schaftlich seinen Willen aufzuzwingen.
Paolo Savona, der Ver­fasser dieser Zeilen, ist einer der ange­se­hensten Öko­nomen Ita­liens und einer der har­schesten Kri­tiker der euro­päi­schen Ein­heits­währung. Auch wegen ihm ist Italien in eine Regie­rungs­krise geschlittert. Die popu­lis­ti­schen Koali­ti­ons­partner Lega und Fünf Sterne hätten Savona gern zum Finanz­mi­nister gemacht. Mit ihm hätten sie gern eine Front gegen Brüssel gebildet. Das lehnte Staats­prä­sident Sergio Mat­tarella strikt ab. Die Regierung kam nie zustande.
In Deutschland haben Savonas Aus­sagen ver­wundert. Den Euro wollte anfangs nicht Deutschland, sondern Frank­reich. Hätte die deutsche Bevöl­kerung abstimmen dürfen, wäre der Euro ver­mutlich durch­ge­fallen. Zu beliebt war die gute, alte D‑Mark, die für Sta­bi­lität und Wohl­stand stand. Immerhin: Der Euro hat sich gemacht. Drei Viertel der Deut­schen gaben im Oktober 2017 an, die Ein­heits­währung sei eine gute Sache für ihr Land. Damit liegt Deutschland mehr als zehn Prozent über dem euro­päi­schen Durch­schnitt. In Italien etwa glaubt nicht einmal die Hälfte, dass der Euro eine gute Sache sei.
Euro als Zwangs­korsett für unter­schied­liche Wirtschaften
Kein anderes Land habe so viel vom Euro pro­fi­tiert wie Deutschland. Solche Sätze hat Daniel Stelter schon zur Genüge gehört. Der Unter­neh­mens­be­rater und Betreiber des Wirt­schafts­blogs think beyond the obvious behauptet das Gegenteil. Deutschland, sagt er BUSINESS INSIDER, zähle zu den Ver­lierern des Euro.
Früher war die D‑Mark die sta­bilste Währung Europas. Die Bun­desbank bestimmte, wo es wäh­rungs­po­li­tisch hinging. Deutsch­lands Han­dels­partner folgten zäh­ne­knir­schend oder wer­teten ab, um die hei­mische Wirt­schaft so wieder wett­be­werbs­fä­higer zu machen. Das änderte sich mit der Ein­führung des Euro. Plötzlich war die Bun­desbank nicht mehr als eine Filiale der mäch­tigen Euro­päi­schen Zen­tralbank EZB und Deutsch­lands Bun­des­bank­prä­sident nur noch einer von vielen Entscheidungsträgern.
Der Euro presste unter­schied­liche Wirt­schaften mit unter­schied­lichen Tra­di­tionen und Bedürf­nissen in ein Korsett. „Die EZB musste einen Mit­telweg gehen, der für alle Länder der falsche war“, sagt Stelter. Für Deutschland seien die Zinsen der EZB zu hoch gewesen, für andere Länder dagegen zu niedrig.
Deutsch­lands Wirt­schaft hatte Anfang der 2000er-Jahre zu kämpfen, wurde vie­lerorts zum „kranken Mann Europas“ gestempelt. In D‑Mark-Zeiten hätte die Bun­desbank abwerten können. Statt­dessen war die Politik gezwungen, Struk­tur­re­formen durch­zu­führen und Lohn­kosten zu senken. Das tat die Schröder-Regierung mit den Hartz-Gesetzen. „Der Euro hat die Rezession ver­längert“, sagt Stelter. „Hätte die Bun­desbank abwerten können, wären die Hartz-Reformen unter Umständen nicht nötig gewesen.“
Dank der Hartz-Reformen gelang es der deut­schen Wirt­schaft, güns­tiger zu pro­du­zieren. Die Exporte zogen an, die Wirt­schaft nahm Fahrt auf. Der „kranke Mann Europas“ wurde zum „Mus­ter­knaben“. Der Nachteil: Für Deutsche wurden Importe und Urlaube in der Eurozone teurer. Die Finanz­krise warf die Bun­des­re­publik nur kurz zurück. Schneller als andere Euro­länder fand Deutschland auf den Wachs­tumspfad zurück. So gut wie die Bun­des­re­publik steht aktuell kaum ein anderes Euroland da.
Geht Italien pleite, ist Deutschland dran
Stelter sieht diese Ent­wicklung kri­tisch. „Durch den Euro ist die deutsche Wirt­schaft viel export­ab­hän­giger geworden“, sagt er. „Wir sind dadurch viel erpress­barer geworden.“ Tat­sächlich geht ein Großteil der deut­schen Exporte ins euro­päische Ausland und dort oft in Länder, die sich, ange­sta­chelt durch günstige Zinsen, über­nehmen. Länder wie Grie­chenland, Por­tugal und Italien ver­schulden sich immer weiter. Die not­wen­digen Kredite erhalten sie dabei oft aus­ge­rechnet von Geld­gebern jenes Landes, dem sie soeben erst die Waren abge­kauft haben: Deutschland. „Der Euro ist ein Sub­ven­ti­ons­pro­gramm für die deutsche Export­in­dustrie“, sagt Stelter. „Wir bezahlen diese Sub­ven­tionen selbst.“
Die größten schul­den­fi­nan­zierten Aus­wüchse endeten jäh mit der Finanz­krise 2008. Seitdem wird immer klarer. Süd­eu­ro­päische Wirt­schaften können mit Deutschland nicht mit­halten. Zudem leiden Länder wie Grie­chenland, Por­tugal, Spanien und Italien unter ihren immens hohen Schulden. Viele private Gläu­biger haben sich längst zurück­ge­zogen. Oft sind öffent­liche Geld­geber ein­ge­sprungen. Damit steht auch fest: Geht eines der Länder pleite, dürfte das die Eurozone ins Chaos stürzen und Deutschland gleich mit.
Bei­spiel Italien: „Das Land wird seine Schulden nicht mehr zurück­zahlen können“, sagt Stelter. „Ent­weder kommt es zu einem Schul­den­erlass, einer Schul­den­ver­ge­mein­schaftung oder einer Schul­den­stre­ckung unter Teil­nahme der EZB — oder aber Italien erklärt den Bankrott.“ Für Italien sei die Pleite durchaus eine sinn­volle Option. Das Land könne durch einen Aus­tritt aus der Eurozone abwerten und seine Wirt­schaft über Nacht wieder wett­be­werbs­fähig machen, glaubt der Ökonom. Deutsch­lands Bürger blieben dagegen auf einem Berg wert­loser For­de­rungen sitzen.
Stelters Aus­blick für die gesamte Eurozone ist nicht viel rosiger. „Ange­sichts von min­destens drei Bil­lionen fauler Schulden in Europa ist sicher, dass Deutschland als Haupt­gläu­biger einen großen Teil der Ver­luste tragen wird“, sagt der Ökonom. „Das heißt, dass die deut­schen Sparer und Steu­er­zahler für den Schaden auf­kommen müssten. Ein Euro-Pro­fiteur ist Deutschland also sicher nicht.““
→ businessinsider.de: „‚Auch wir sind ein Euro-Ver­lierer‘: Ökonom erklärt, was Europa an Deutschland nicht ver­steht“, 30. Mai 2018

 Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com