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Vera Lengsfeld über das Buch: Die Wie­der­gut­macher – Das Nach­kriegs­trauma und die Flüchtlingskrise

Angela Merkel könnte schon Geschichte sein, wenn die Leser dieses Buch in die Hand bekommen, bemerkt auf Seite 31 der Autor Raymond Unger sehr hell­sichtig. Er war damit einer der ganz Wenigen, die nicht über­rascht worden sind, als Merkel nach der Hes­senwahl ihren Rückzug aus der Politik ankün­digte, wenn auch noch nicht vollzog. Es war, als hätte ihr Ver­sprechen, nicht mehr für den Par­tei­vorsitz zu kan­di­dieren, den Korken aus der Flasche gezogen und den lange ein­ge­sperrten Geist ent­lassen. Ohne Zeit­verzug begann der Kampf um die Nach­folge. Gleich­zeitig wurden For­de­rungen laut, auch das Kanz­leramt aufzugeben.
Ist mit Merkels Abgang, selbst wenn sie das Kanz­leramt, wie zu ver­muten ist, unfrei­willig räumen muss, das Problem gelöst? Nein, denn das System Merkel ist damit nicht am Ende.
Die „mäch­tigste Frau der Welt“ hatte ihre Macht nur, so Unger, „weil sie ihr von einem ganz bestimmten Baby­boomer-Typus in Medien, Politik und Kultur“ ver­liehen wurde. Dieser Typus wird auch die Zeit nach Merkel noch lange prägen. Wie recht der Autor damit hatte, zeigten die ersten Reak­tionen auf Merkels Ankün­digung. Es wurde von einem klugen, selbst­be­stimmten Schritt gefaselt und geschrieben und die Noch-Kanz­lerin für ihr Lebenswerk, ihren angeb­lichen „Dienst für Deutschland“ bejubelt, obwohl Merkel, wie kein Kanzler vor ihr, das Land an den Rand des Abgrunds gebracht hat.
Die von Merkel und ihrem Anhang ver­folgten Leit­prin­zipien bringt Unger richtig auf den Punkt: „Moral vor Recht, Legende vor Wahrheit, Femi­nismus vor Mas­ku­li­nität, Kon­for­mität vor Cha­rakter, Gesinnung vor Ver­ant­wortung, Bekenntnis vor Handlung, Selbst­ver­leugnung vor Selbst­be­hauptung, Gefühl vor Ratio, Feigheit vor Mut“.
Das schreibt ein Autor, der bis 2015 ein beken­nender Linker war, der Grüne, SPD und PDS-Linke in den unter­schied­lichsten Kom­bi­na­tionen gewählt hat und seitdem sich immer mehr den Posi­tionen seiner ehe­ma­ligen Gegner, bis hin zur AfD ange­nähert hat. „Eine Zeit lang habe ich mich schon aus Prinzip gegen eine Zustimmung aus diesem Lager gewehrt, doch… je länger ich dem geradezu beängs­ti­genden Gleich­klang der eta­blierten Medien gelauscht habe, desto mehr musste ich den kri­ti­schen, alter­na­tiven Stimmen recht geben.“ Ein wei­terer Grund für sein Buch sei sein Erschrecken über die sich selbst zen­sie­rende Kunst- und Medi­enwelt gewesen. „Sys­tem­treue Künstler sind wie sys­tem­treue Medien ein Zeichen dafür, dass der Kon­troll­me­cha­nismus freier Gesell­schaften versagt“.
Wie es so weit kommen konnte, ana­ly­siert Unger auf fast 400 Seiten. Sein Aus­gangs­punkt ist unge­wöhnlich: Er erinnert daran, dass es in Deutschland nach 6 Mil­lionen Kriegs­toten, 12 Mil­lionen Ver­trie­benen und 2 Mil­lionen ver­ge­wal­tigten Frauen keine Familie mehr gab, die nicht auf die eine oder andere Weise Bekannt­schaft mit äußerster Gewalt gemacht hat. Das Ergebnis waren Eltern, die ihren Kindern auf Grund ihrer Trau­ma­ti­sierung weder die nötige Liebe und Zuwendung noch Gebor­genheit geben konnten.
„Deutsche Baby­boomer sind Kinder von Eltern, die ohne Väter auf­wuchsen oder deren Väter kör­perlich oder see­lisch so ver­wundet waren, dass sie ihren Kindern niemals nahe kommen konnten. Baby­boomer sind Kinder von Kindern, die von kalten, ver­bit­terten Müttern erzogen wurden, die alles ver­loren hatten, oftmals auch die Liebe zu ihrem eigenen Körper.“
Auf­grund der emo­tio­nalen Ver­küm­merung ihrer Eltern haben viele Baby­boomer gelernt, sich anzu­passen, nicht auf­zu­fallen. Der Mecha­nismus der trans­ge­ne­ra­tio­nalen Wei­tergabe von Kriegs­traumata wird erst langsam begriffen. Viele Psy­cho­logen halten die Gene­ration der Baby­boomer für „man­gelhaft tri­an­gu­liert“, was bedeutet, sie sind nie richtig erwachsen geworden. Sie sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte, nämlich friedlich um jeden Preis. Das führt nicht nur zu einer fal­schen Toleranz gegenüber Aggres­soren, sondern auch zu einer Neigung, sich mit Mei­nungen, die her­risch vor­ge­tragen werden, zu iden­ti­fi­zieren. Merkels „alter­na­tivlos“ fiel so auf frucht­baren Boden.
Baby­boomer haben weder die rich­tigen Kon­se­quenzen aus der geschei­terten Appeasement-Politik gegenüber den Nazis gezogen, noch aner­kannt, dass der Kalte Krieg und seine Gefahr der ato­maren Kon­fron­tation nicht durch Frie­dens­demos gelöst wurde, sondern durch den Nato-Dop­pel­be­schluss. Oder mit anderen Worten: Nicht Moral und Utopien, sondern Ver­ant­wor­tungs­ethik und Rea­lismus waren erfolg­reich. Sie träumen weiter von einem One-World-Imperium ohne natür­liche und gewachsene Unterschiede.
Während die Not­wen­digkeit per­sön­licher Iden­tität noch aner­kannt wird, gilt das nicht für die soziale Iden­tität. Dabei trifft sowohl auf Indi­viduen, als auch auf Gesell­schaften zu, dass stabile Selbst­be­hauptung nur mit der Aus­bildung einer starken Iden­tität möglich ist. Erst durch soziale Iden­tität ist ein Mensch oder eine Gesell­schaft in der Lage, sozial zu inter­agieren und soziale Räume zu gestalten. Eine Gesell­schaft, die Angst vor ihrer eigenen Iden­tität hat, kann keine posi­tiven Angebote zur Inte­gration machen. Deshalb kann von Inte­gration in Deutschland keine Rede sein. Geschätzte 90% der Migranten, die zu uns gekommen sind, leben in Parallelgesellschaften.
Das von der „Will­kom­mens­kultur“ insze­nierte neue deutsche Selbst­wert­gefühl, das sich mit über­le­gener Moral brüstet, erhebt sich wieder über andere Völker oder Gesell­schaften, eine Haltung, die besonders in Deutschland gemieden werden sollte. Kurio­ser­weise wird die über­legene Moral vor allem von jenen befördert, die verbal immer wieder das „Nie wieder“ in Bezug auf die Nazi­dik­tatur betonen. Beklemmend auch, dass die Antifa, ein aggres­siver Akteur im „Kampf gegen Rechts“, keine Scheu hat, sich der Methoden zu bedienen, die bereits von den SA-Sturm­trupps ange­wandt wurden. Kürzlich haben Anti­fanten in Freiburg Men­schen mit Eisen­stangen durch die Straßen getrieben und zum Teil nie­der­ge­schlagen, was kei­nes­falls zu einem Auf­schrei in den Qua­li­täts­medien geführt hat. Auch Auf­kleber mit „Kein Zutritt für AfD“ an Restau­rants und „Kein Bier für Nazis“ an Kneipen führen bei den Kämpfern gegen „Rechts“ und ihren Unter­stützern kei­neswegs zu Beklem­mungen, sondern zu hohem Lob für die angeb­liche „Zivil­courage“, obwohl die his­to­ri­schen Par­al­lelen offen­sichtlich sind. Schlimmer noch, wer als Wirt es ablehnt, sich an solchen Aktionen zu betei­ligen, muss mit Ächtung rechnen.
Besonders inter­essant wird es, wenn Unger auf seine eigene Fami­li­en­ge­schichte verweist.
„Als Ange­hö­riger und Nach­fahre kriegs­trau­ma­ti­sierter, hei­mat­loser, fun­da­mental-reli­giöser Men­schen habe ich Jahr­zehnte gebraucht, um mein trans­ge­ne­ra­tio­nales Kriegs­trauma zu erkennen und zu ver­ar­beiten und mich aus den Fesseln einer fun­da­men­talen Religion zu lösen. … Meine Freiheit im Denken und im Leben habe ich mir mühsam erkämpft. … Zu uns kommen vor allem viele junge Männer, die in Gewal­träumen archaisch und fun­da­men­tal­re­ligiös geprägt wurden. Die Wei­gerung, die Folgen einer über­mä­ßigen Zuwan­derung dieser Gruppe in unsere fragile, liberale, säkulare Gesell­schaft zu bedenken, zeugt von Unreife und ideo­lo­gi­scher Ein­sei­tigkeit prä­gender Teile der deut­schen Gesell­schaft.“ Die Suche nach den Gründen für diese „mora­lis­tische Infan­ti­li­sierung“ ist der rote Faden in Ungers Buch.
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