Wie Nach­fahren deut­scher Siedler in Sibirien heute ihre Tra­di­tionen erhalten

In Sibirien leben Nach­fahren deut­scher Siedler, die einst ins Zaren­reich gekommen sind, immer noch in ihren alten Tra­di­tionen. Sie leben ländlich, ohne Gas- und Was­ser­ver­sorgung, sind zu einem Großteil Selbst­ver­sorger und leben ihre alt­her­ge­brachten Tra­di­tionen weiter. Wie bei allen Min­der­heiten, achtet der rus­sische Staat darauf, dass sie ihre Tra­di­tionen leben können und ihre eigene Sprache in der Schule gelehrt wird. Trotz der spar­ta­ni­schen Lebens­be­din­gungen wächst die Ein­woh­nerzahl solcher Dörfer sogar und kaum jemand wandert in die Städte aus.
(Von Thomas Röper)
Am Sonntag gab es in der rus­si­schen Sendung „Nach­richten der Woche“ einen Beitrag über ein solches deut­sches Dorf in Sibirien. Ich habe den Beitrag über­setzt, aber auch ohne Rus­sisch­kennt­nisse sind die Bilder des Bei­trages interessant.
Beginn der Übersetzung:
Die meisten Bewohner des Dorfes Apol­lonia in der Region Omsk sind Nach­fahren von fünf deut­schen Familien, die im frühen 20. Jahr­hundert aus der Ukraine ins rus­sische Sibirien ein­wan­derten. Heute, wie vor hundert Jahren, leben die Deut­schen im sibi­ri­schen Apol­lonia auf tra­di­tio­nelle Weise und wollen ihre Scholle nicht ver­lassen. Häuser werden hier nicht ver­kauft. Warum?
Apol­lonia. Auf den wenigen Straßen, oder besser gesagt Wegen, kann man deutsche SUVs und rus­sische Lada Niva treffen, aber es gibt Stellen, wo man nur mit der Kutsche durch­kommt. Hier, wie in vielen anderen Dörfern im Land­kreis, ist das Wort „Straße“ kaum ange­bracht. Schilder für Geschwin­dig­keits­be­gren­zungen stehen hier nur, um die Men­schen zu amü­sieren. Die nächst­ge­legene Zivi­li­sation ist min­destens eine Stunde ent­fernt, aber die Zahl der Ein­hei­mi­schen ist in den letzten 10 Jahren um mehr als hundert gestiegen. 960 Men­schen leben heute hier.
Während der Früh­lingsflut ist ein beliebter Zeit­ver­treib in Apol­lonia eine Boots­fahrt auf den über­flu­teten Wiesen. Über dieses Dorf sagt man: „Hier haben wir alles, aber es gibt nichts“. Es gibt viele neue schöne Back­stein­häuser, aber es gibt keine Gas- oder Was­ser­ver­sorgung. Es gibt eine ganze Reihe von Pro­duk­ti­ons­stätten, aber es gibt prak­tisch keinen Mobilfunk oder Internet.

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Dieses Dorf wird „deutsch“ genannt. Doch neben den Nach­kommen der Deut­schen, die es im frühen 20. Jahr­hundert gegründet haben, leben heute auch Russen und Kasachen hier. Eine ganze Straße mit drei­stö­ckigen Häusern wie gemalt, mit gepflegten Grund­stücken und grünen Rasen­flächen. Das ist nur ein Teil von Apollonia.
Vor seinem Haus hat sich Jakob eine deko­rative Wind­mühle gebaut, mit seinen eigenen Händen. Auf dem Grund­stück ist ein Gäs­tehaus und eine riesige Garage: Im Inneren kommt man kaum durch, hier stehen ein Dutzend Fahr­räder, ein Schnee­mobil, ein Quad-Bike, ein japa­ni­sches Motorrad.
In der Mitte des Feldes befindet sich ein Hangar mit eigenem Flugzeug. Viele Jahre lang ver­suchte Jabkob, ein Flugzeug selbst zu bauen und schaffte es sogar einmal, den Rumpf mit Flügeln und Motor zusam­men­zu­bauen. Doch das Flugzeug stürzte ab. Jakob hat sich ein neues gekauft und fliegt mit ihm herum. „Ich mache keinen Kunstflug, ich fliege nur zur Ent­spannung“, sagte Jakob.
Die übliche Situation in Apol­lania: Der Laster mit Trink­wasser steckt im Schlamm fest: Er kam, um Trink­wasser für die Kanister der Bewohner zu liefern. Sie ver­suchen, ihn mit Ketten und einem SUV her­aus­zu­ziehen. Es scheint nicht zu funk­tio­nieren. Offenbar wird ein Traktor benötigt.
Die Bewohner von Apol­lonia mussten lernen, ohne Was­ser­ver­sorgung zu leben. Trink­wasser wird zweimal pro Woche geliefert. Damit der Fahrer keine Zeit ver­liert, bringen die Anwohner von Apol­lania in der Regel Kanister aus ihren Häusern direkt auf die Straße. Der Laster hält an, ver­teilt das Wasser gegen Was­ser­karten, die die Men­schen ihm im Tausch dafür geben und fährt weiter.
Deut­scher Erfin­dungs­reichtum hilft unter Bedin­gungen, wenn der Laster wegen Regen nicht zu allen Häusern kommt, weiter. Viele Häuser ver­fügen über ein Ent­wäs­se­rungs­system, das Wasser in unter­ir­dische Reser­voiren sammelt.
Eine weitere deutsche Beson­derheit ist die Sauna im Inneren des Hauses. Im Haus ist es warm, sie heizt sich schneller und damit bil­liger auf. Im Haus des Imkers Jacob Epp gibt es drei Bäder, eins für Gäste, eins für die Eltern und eins für die Kinder. Er sagt, die Kinder im Haus zu zählen, ist nutzlos: Außer seinen eigenen spielen im Haus auch die Kinder von Freunden, Cousins und Schwestern.
In Apol­lonia gibt es 52 Groß­fa­milien. Die Hälfte der Bevöl­kerung des Dorfes ist religiös. Frauen aus Bap­tis­ten­fa­milien arbeiten in der Regel nicht, sie kümmern sich um die Kinder. Es wird ein deut­scher Dialekt gesprochen, den die Gründer des Dorfes sprachen. In der ersten Klasse fangen einige Kinder gerade erst an, die rus­sische Sprache zu lernen.
Die Schule hat 197 Kinder. Sie passen nicht alle gleich­zeitig in die zwei Klas­sen­räume, daher wird in zwei Schichten unter­richtet. Besondere Auf­merk­samkeit gilt der deut­schen Sprache. Die Schule unter­richtet Hoch­deutsch. Mutter und Vater dieser Kinder wurden in Apol­lonia geboren, sind nach Deutschland aus­ge­wandert, haben dort die Kinder bekommen und sind vor kurzem ins Dorf zurückgekehrt.
Die Firmen hier sind fast alles Fami­li­en­be­triebe. So baute der Schwie­ger­vater von Andre Paulus hier den ersten Fens­ter­rahmen. Es ist der­selbe Jakob, der in seiner Freizeit Flug­zeuge und Wind­mühlen baut. Heute betreibt er ein Unter­nehmen, das Holz für die indus­trielle Pro­duktion liefert. Und wenn es viel Arbeit gibt, setzt er sich auch selbst hinter das Steuer und zeigt der jungen Gene­ration, wie es geht.
Ein deut­sches Geschäft in Apol­lonia. Die Fassade ist in strengen Tönen gehalten. Ein fein säu­berlich ein­ge­zäuntes Areal. Autos parken innerhalb des Areals, Pfer­de­kut­schen draußen. Es gibt weder Alkohol noch Ziga­retten im Laden. Dafür kann man bei Bedarf anschreiben lassen.
Je mehr Pro­bleme es in Apol­lonia gibt, desto mehr mühen sich die Men­schen ab. Es gibt keinen stän­digen Arzt im Dorf: Der Sani­täter kommt manchmal aus dem Nach­bardorf, aber meistens ist die Tür des Behand­lungs­raumes abge­schlossen. Gleich­zeitig wächst hier die Geburtenrate.
Das Geld, das für die Repa­ratur von Straßen bereit­ge­stellt wurde, reichte nur für 200 Meter, aber die Men­schen haben sich zusam­men­getan und tausend Tonnen Schutt gekauft, um ihre Straßen zu befes­tigen. Als mit­ge­teilt wurde, dass ein Teil der Bus­ver­bin­dungen ein­ge­stellt würde, hatten viele nicht mehr die Mög­lichkeit, das Dorf zu ver­lassen. Die Gehälter werden über­wiesen, aber es gibt keinen Geld­au­to­maten in Apol­lonia. Die Lehrer schrieben eine Petition an Prä­sident Putin.
Derzeit werden die Busse repa­riert und in naher Zukunft soll die Repa­ratur der Umge­hungs­straße beginnen. Die Anwohner selbst lehnen sich nicht zurück. Sie sagen, für die Ent­wicklung, die per­sön­liche und die des ganzen Dorfes, muss man gemeinsam handeln.
„Wir teilen unsere Erfah­rungen. Wir haben keine Angst vor Neid, wenn es dem Nachbar besser geht als mir. Wenn die Leute große Zäune um sich herum bauen, damit der Nachbar nicht sieht, wie gut man lebt, ist das schlecht“ ist sich Jakob Epp sicher.
Poli­tische Nach­richten ver­folgt in Apol­lonia niemand. Viel wich­tiger sei die Aussaat, die bald beginnt.
Ende der Übersetzung
Es ist tat­sächlich so, dass der Viel­völ­ker­staat Russland es fördert, dass die Min­der­heiten ihre Sprachen und Tra­di­tionen pflegen. So gibt es in Russland über 50 regionale Amts­sprachen oder soge­nannte aner­kannte Sprachen, die in Schulen unter­richtet werden und in Behörden ange­wendet werden. Deutsch ist übrigens in drei Gebieten Russ­lands aner­kannte Sprache, das sind der Autonome Kreis der Nenzen, der Autonome Kreis der Chanten und Mansen und der Autonome Kreis der Jamal-Nenzen.
Diese Politik hat eine lange Tra­dition und weder unter der Herr­schaft der Zaren, noch der Kom­mu­nisten, noch im heu­tigen Russland ist auch nur eine einzige Ethnie ver­schwunden. Im Gegenteil, es wurde schon in der Sowjet­union darauf geachtet, dass die offi­zi­ellen Zei­tungen in allen Natio­nal­sprachen erschienen sind. Der Grund mag gewesen sein, dass man damit die kom­mu­nis­tische Pro­pa­ganda auch im letzten Winkel des Landes ver­breiten wollte, aber es hatte zur Folge, dass die über 100 Ethnien in Russland ihre kul­tu­relle Eigen­stän­digkeit und Sprache behalten haben. Und auch im heu­tigen Russland garan­tiert die Ver­fassung in Artikel 68 jeder noch so kleinen Min­derheit min­destens Schul­un­ter­richt in der eigenen Sprache.
 

Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“