Bei nachfolgendem Beitrag/Podcast handelt es sich um eine Version des Referats, das vom Autor am 17. Oktober 2019 auf der LI-Konferenz und Buchvernissage «Explosive Geldpolitik» gehalten wurde.
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(von Thorsten Polleit)
Jeder kennt ihn, jeder spricht über ihn: den Zins. Doch was ist der Zins eigentlich? Der Zins ist in der Volkswirtschaftslehre nach wie vor ein Zankapfel. Es gibt immer noch viele sich zum Teil widersprechende Zinstheorien: die Produktivitätstheorie des Zinses; die Abstinenztheorie des Zinses; die Ausbeutungstheorie des Zinses; die Liquiditätstheorie des Zinses; die Zeitpräferenztheorie des Zinses; und andere mehr. Wie soll man sich da zurechtfinden? Welche Theorie ist die richtige?
Das Zinsphänomen wird nur verständlich, wenn man über die ökonomische Lehre hinausgeht und sich Hilfe von der Erkenntnistheorie holt. Die Erkenntnistheorie – man bezeichnet sie in der Philosophie auch als Epistemologie – beschäftigt sich mit Fragen wie: Woher stammt unser Wissen? Wo sind die Grenzen des Wissens? Was können wir wissen? Die Aussage, dass wir Menschen in all unserer Unvollkommenheit nicht alles verstehen und wissen, werden vermutlich viele unterschreiben. Doch es gibt auch Dinge, die wir sehr genau verstehen und wissen, ja die wir sogar mit Gewissheit wissen können!
Nehmen wir nur einmal den Satz vom Widerspruch, den wir aus der Logik kennen: Zwei sich widersprechende Aussagen können zugleich nicht zutreffen. Es ist beispielsweise nicht möglich, dass die Erde eine Scheibe ist, und dass es gleichzeitig nicht der Fall ist, dass die Erde eine Scheibe ist. Wir haben es hier mit einer Erkenntnis zu tun, die wir nicht verneinen können, ohne dass wir durch das Verneinen ihre Gültigkeit schon voraussetzen.
Eine derartige Erkenntnis war auch dem Königsberger Philosophen und Kritiker der reinen Vernunft, Immanuel Kant (1724–1804), geläufig. Er erklärte uns, dass wir Menschen keine voraussetzungslosen Erfahrungen machen könnten; sondern dass wir vielmehr den Gegenständen, die wir erfahren, Eigenschaften auferlegten, die aus unserem Erkenntnisvermögen stammen. Kant sprach in diesem Zusammenhang von den Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erfahrung. Zu diesen Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erfahrung ist auch der Zins – genauer: der Urzins – zu rechnen.
Warum der marktwirtschaftliche Zins nicht negativ sein kann
Es gibt Aussagen, die man nicht widerspruchsfrei verneinen kann. Solche Sätze müssen wir – ob wir wollen oder nicht – als wahr ansehen. Dazu zählt beispielsweise der Satz: «Der Mensch handelt.» Dieser Satz klingt zunächst recht trivial. Aber er hat es in sich. Er gilt a priori: das heißt, er ist erfahrungsunabhängig, ist selbstevident, kann Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit beanspruchen. Der Satz «Der Mensch handelt» zeichnet sich durch Widerspruchsfreiheit aus: Wer ihn verneint, der handelt und widerspricht damit dem Gesagten.
Aus dem wahren Satz «Der Mensch handelt» lassen sich weitere wahre Aussagen deduktiv ableiten. Beispielsweise, dass das menschliche Handeln stets zielbezogen ist, was sich ebenfalls nicht widerspruchsfrei verneinen lässt. Und weiter: Wer handelt, der muss Mittel einsetzen, um seine Ziele zu erreichen; es gibt kein mittelloses Handeln. Wer also beispielsweise zu jemand anderem sprechen möchte, muss seine Stimmbänder in Schwingung versetzen, also ein Mittel einsetzen.
Mittel sind stets knapp. Wären sie nicht knapp, wären sie keine Mittel. Zeit ist ein unverzichtbares Mittel. Zeitloses Handeln lässt sich nicht widerspruchsfrei denken, denn sonst wären die Ziele immer sofort und unmittelbar erreicht, und man könnte nicht mehr handeln. Weil Handeln Knappheit impliziert, wertet der Handelnde notwendigerweise einen größeren Gütervorrat – mehr Mittel – höher als einen kleineren Gütervorrat. Und weil Zeit ein knappes Mittel ist, und jede Handlung den Einsatz von Zeit als Mittel erfordert, zieht der Handelnde eine frühere Zielerreichung einer späteren vor.
Genau diese Tatsache, dass man ein Früher einem Später vorzieht, kommt durch die Zeitpräferenz zum Ausdruck, und ihre Manifestation ist der sogenannte Urzins. Der Urzins steht für den Wertabschlag, den die spätere Erfüllung der Bedürfnisse gegenüber der früheren Erfüllung der Bedürfnisse – von gleicher Art und Güte und unter gleichen Bedingungen – erleidet. Zeitpräferenz und Urzins stecken gewissermaßen in jedem handelnden Menschen. Wir alle haben stets und überall eine positive Zeitpräferenz und folglich auch einen positiven Urzins. Zeitpräferenz und Urzins können nicht verschwinden, sie sind immer da – und sie können vor allem nicht negativ werden.
Zeitpräferenz und Urzins sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich, und sie ändern sich auch im Laufe des Lebens. Die Zeitpräferenz und der Urzins sind hoch, wenn der Handelnde den Gegenwartskonsum vergleichsweise hoch wertschätzt im Vergleich zum Zukunftskonsum. Und die Zeitpräferenz ist niedrig, wenn der Gegenwartskonsum vergleichsweise weniger hoch wertgeschätzt wird im Vergleich zum Zukunftskonsum.
Wenn die Zeitpräferenz der Menschen abnimmt, bedeutet das, dass ihnen das Gegenwärtige weniger wichtig wird gegenüber dem Zukünftigen – und entsprechend nimmt auch der Urzins ab. Das zeigt sich darin, dass die Menschen aus ihrem Einkommen mehr sparen und weniger konsumieren. In kapitalistischen Volkswirtschaften wird das Ersparte investiert (auch Kundengelder auf dem Bankkonto werden von den Banken investiert), und dadurch steigen die künftigen Konsummöglichkeiten. Eine abnehmende Zeitpräferenz führt also zu mehr Wohlstand.
Wie erklärt sich nun der Zusammenhang zwischen Urzins und Marktzins? Es gibt Menschen, die konsumieren nicht ihr gesamtes Einkommen. Den Teil, den sie nicht konsumieren, sparen sie – und sie bieten ihre Ersparnisse anderen an. Die Ersparnisse werden von denen nachgefragt, die mehr auszugeben wünschen, als sie haben. Durch das Angebot von Ersparnissen und der Nachfrage nach Ersparnissen (für Investitionszwecke) bildet sich auf einem freien Markt ein Marktzins heraus.
In einem freien Markt entspricht der Marktzins dem «gesellschaftlichen» Urzins. Letzterer erklärt sich aus den individuellen Urzinsen der Anbieter von Ersparnissen und der Nachfrager nach Ersparnissen. Der «gesellschaftliche Urzins», der sich auf diese Weise herausbildet, stellt sicher, dass es stets genügend Ersparnisse gibt, um die Investitionen durchführen zu können.
Folgenschwere Konsequenzen von Null- oder Negativzinsen
Der Zins hat viele Feinde. Diverse Menschen sehen in ihm ein Übel. Beispielsweise wollen sozialistisch-kommunistische Parteien den Zins abschaffen, genauso wie damals die Nationalsozialisten. Ein Propagandaruf der deutschen Nationalsozialisten lautete: «Brechung der Zinsknechtschaft». Wenn wir die nationalökonomische Theorie studieren, dann können wir jedoch verstehen, dass ohne einen positiven
Marktzins unsere heutige Wirtschaft und unser Wohlstand gar nicht möglich wären.
Nehmen wir an, der Marktzins wäre null. Dann gäbe es keinen Anreiz mehr, auf heutigen Konsum zu verzichten, zu sparen und das Ersparte zu investieren. Denn jeder Mensch hat ja eine positive Zeitpräferenz und damit einen positiven Urzins, der sein Werten und Handeln leitet. Aufgrund der positiven Zeitpräferenz wird zum Beispiel 1 Euro heute notwendigerweise höher gewertet als 1 Euro in der Zukunft. Hat der Handelnde einen Urzins von, sagen wir, 2 Prozent, wird er nur dann bereit sein, 1 Euro, den er heute besitzt, gegen 1,02 Euro, die er künftig erhält, einzutauschen. Bekäme er für seinen heutigen 1 Euro lediglich 1,01 Euro in einem Jahr, würde kein Tausch zwischen «Euro heute» und «Euro in einem Jahr» stattfinden; es gäbe keinen Marktzins.
In einer Welt, in der der Marktzins null wäre, würde nur noch konsumiert, es würde nicht mehr gespart und investiert. Kapitalverzehr würde einsetzen. Alles vorhandene Kapital wird verbraucht – die Regale werden sprichwörtlich leergeräumt. Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen bleiben aus. Die Arbeitsteilung hört auf, und die Volkswirtschaft fällt zurück in eine primitive Subsistenzwirtschaft. In einer Welt, in der
der Marktzins null beträgt, würde die moderne Volkswirtschaft, wie wir sie heute kennen, nicht mehr funktionieren. Senkte man also den Marktzins weltweit plötzlich auf null ab, wären Milliarden von Menschen ihrer Einkommensquelle beraubt, die meisten wohl dem Hungertod preisgegeben.
Geldschaffen aus dem Nichts
Der Marktzins wird heutzutage nicht mehr im freien Markt bestimmt, sondern von den staatlichen Zentralbanken nach politischen Erwägungen gesetzt. Wie erklärt sich das? Die Zentralbanken haben das Geldproduktionsmonopol inne. Und das nutzen sie, um – in enger Kooperation mit den Geschäftsbanken – neues Geld durch Kreditvergabe zu schaffen. Durch eine Kreditvergabe, der keinerlei Ersparnis gegenübersteht, wird neues Geld in Umlauf gebracht. Das ist das sogenannte «Geldschaffen aus dem Nichts».
Das per Kredit neu geschaffene Geld erreicht die Volkswirtschaft, indem es in den Kreditmarkt eingespeist wird. Das erhöht das Kreditangebot künstlich, was wiederum den Marktzins künstlich absenkt. Der Marktzins fällt niedriger aus, als er ausfallen würde, wenn das Kreditangebot nicht künstlich ausgeweitet worden wäre. Der Marktzins gerät aus dem Gleichgewicht. Er wird unter den gesamtwirtschaftlichen Urzins gedrückt. Und das hat negative Folgen. Es entmutigt das Sparen, es ermutigt den Konsum, und gleichzeitig setzt es neue Investitionen in Gang, für deren Realisation keine Ersparnisse verfügbar sind. Die Volkswirtschaft beginnt also, über ihre Verhältnisse zu leben. Überkonsum und Fehlinvestitionen stellen sich ein. Zunächst führt das einen künstlichen Aufschwung («Boom») herbei, der früher oder später in einen Abschwung («Bust») umschlägt. Es entstehen also Spekulationsblasen, die nachfolgend platzen und krisenhafte Erschütterungen auslösen.
Die Zentralbankpolitiken sind zweifelsohne die Kernursache für die großen Krisen – wie zum Beispiel die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, aber auch weiter zurückliegende Krisen wie etwa das Platzen des «New Economy Booms» 2000/2001 und der Großen Rezession 1929.
Außerdem steigt die Verschuldung der Privaten und der Staaten an und die Kaufkraft des Geldes schwindet. Der Staat, der mit seiner Zentralbank eine nahezu unerschöpfliche Finanzierungsquelle hat, wird immer größer und mächtiger, wird zum tiefen Staat – zum «Deep State» – und zerstört immer mehr bürgerliche und unternehmerische Freiheiten.
Umwertung aller Werte
Das künstliche Absenken des Zinses ist alles andere als ein Kavaliersdelikt. Die Folgen der Zinsmanipulation durch die Zentralbanken sind vielmehr überaus weitreichend. Die Zinsmanipulation greift unmittelbar in das Werten und Handeln der Menschen ein und bringt es durcheinander; es führt die Menschen in die Irre, durchkreuzt ihre Konsum‑, Spar- und Investitionsentscheidungen. Die Zentralbanken manipulieren mit ihrer Politik die Zeitpräferenz der Menschen in die Höhe. Sie «machen» das Hier und Heute für die Menschen noch wichtiger gegenüber dem Morgen.
Es kommt zu einer – wie es Friedrich Nietzsche (1844–1900) formulierte – «Umwertung aller Werte». Nicht nur die Wirtschaftsstruktur, sondern eben auch das Werte- und Moralgerüst der Volkswirtschaft wird in Mitleidenschaft gezogen. Dazu einige Beispiele.
Das künstliche Herabdrücken des Marktzinses ermutigt zu einem Leben auf Pump. Die Tugend der Sparsamkeit gerät aus der Mode, «Dauerschuldnerei» wird «in» und moralisch akzeptabel. Das Erreichen von Kurzfristzielen wird für die Menschen wichtiger als das Erreichen von längerfristigen Vorhaben. Beispielsweise nimmt die Leistungsbereitschaft ab, weil Freizeit zusehends höher wertgeschätzt wird als «Arbeitsleid».
Die empfundenen Kosten, die mit Familie und Kinderreichtum verbunden sind, werden zusehends gescheut. Scheidungen zur «Lösung» von Eheproblemen werden attraktiver; denn die Kosten, um über partnerschaftliche Schwierigkeiten hinwegzukommen, steigen.
Die Qualität der Ausbildung leidet: Wenn das Hier und Jetzt noch wichtiger wird, dann wendet man weniger Zeit auf, um sich über den Tag hinaus, auf zeitintensiven Wegen zu bilden und reifen zu lassen.
Die Sitten verfallen: Manieren zu erlernen und Rücksicht zu nehmen sind aufwendige Tätigkeiten. Im zwischenmenschlichen Umgang zahlen sie sich häufig erst langfristig aus. Gutes Benehmen bleibt daher auf der Strecke, wenn die Zeitpräferenz der Menschen künstlich erhöht wird.
Auch die Ästhetik verkommt: Modische Eintagsfliegen haben es leichter, Käufer zu finden, das Brechen mit «bewährten Klassikern» wird erleichtert. Beispielsweise stampft man Bauten, die so gut wie eben möglich dem Durchschnittsgeschmack gefallen sollen, so schnell wie eben möglich aus dem Boden, Schönheitsaspekte werden dabei zweitrangig.
Und nicht zuletzt sorgen der Überkonsum und die Fehlallokationen, die beide Folgen der Zinsmanipulation sind, für eine verstärkte Nutzung von Naturressourcen. Auf diese Weise werden Umweltprobleme geschürt: Es kommt zum Abbau und Verbrauch von Rohstoffen für den Überkonsum und die Fehlinvestitionen.
Die widersprüchliche Theorie des negativen gleichgewichtigen Zinses
In den letzten Jahren haben einige meinungsführende Ökonomen die Theorie vorgelegt, der «gleichgewichtige Zins» – beziehungsweise der Urzins – sei negativ geworden. Das verbinden sie mit einer normativen Forderung: Weil der gesellschaftliche Urzins negativ sei, müssten die Zentralbanken den Marktzins in den Negativbereich befördern, um Wachstum und Beschäftigung zu unterstützen. Einige Zentralbanken sind dem Ruf bereits gefolgt: die Europäische Zentralbank, die Schweizerische Nationalbank sowie auch die dänische und schwedische Zentralbank. Was ist davon zu halten?
Die Idee, der Urzins könnte null Prozent oder gar negativ werden, ist logisch widersprüchlich und daher falsch. Der Urzins kann sich zwar auf die Nulllinie zubewegen, er kann aber niemals null oder negativ werden. Wenn man behauptet, der Urzins sei null, dann verneint man damit den logisch nicht widerlegbaren Satz, dass der Mensch handelt; und das ist zweifelsohne falsch. Ein negativer Urzins ist für den menschlichen Geist überhaupt nicht sinnvoll zu verstehen.
Wohlgemerkt: Die Zentralbank kann zwar den Marktzins auf oder auch unter die Nulllinie zwingen, indem sie zum Beispiel Anleihen zu einem Preis kauft, der höher ist als die Summe der Zinscoupons und der Tilgungszahlung der Anleihe. Aber dadurch erzeugt sie notwendigerweise ein Ungleichgewicht, niemals ein Gleichgewicht, denn der Urzins, den die handelnden Menschen in sich tragen, kann aus logischen Gründen nicht null oder gar negativ werden.
Wenn der Urzins null wäre, dann würde der Preis für Boden ins Unermessliche steigen. Die Bodenerträge, die sich über eine unendliche Nutzungsdauer erstrecken, würden dann mit einem Nullzins abgezinst, und das liefe auf einen Barwert und damit einen Marktpreis von Unendlich hinaus! Boden könnte dann gar nicht mehr gegen Geld gekauft und verkauft werden, sondern ließe sich nur noch tauschen gegen andere Grundstücke. Und weil der Preis für Boden natürlich in alle anderen Güterpreise eingeht, würden auch diese Güter unbezahlbar.
Oder: Wenn der Urzins null wäre, dann würden Sie zwei Äpfel, die Sie erst in 10 Jahren oder in 1 000 Jahren bekommen, einem Apfel heute vorziehen. Wenn Ihr Urzins null wäre, dann zählt für Sie nämlich nur noch «Mehr ist besser als weniger». Das «Früher ist besser als später» hat hingegen keine Bedeutung mehr für Ihr Werten und Handeln. Das klingt nicht nur grotesk, das ist es auch – weil es ein Beispiel ist, das auf einer logisch unsinnigen Aussage aufbaut – dass nämlich der Urzins null sei.
Politik des Rückschritts
Die Idee einer Null- oder gar Negativzinspolitik entpuppt sich bei genauem Nachdenken als eine Politik zur Zerstörung des kapitalistischen Systems – beziehungsweise der Überbleibsel, die davon heute noch übrig sind. Die Null- und Negativzinspolitik – konsequent zu Ende gedacht – ist der Weg in die De-Zivilisation, in den Rückbau der modernen Volkswirtschaften, wie wir sie heute kennen.
Einerseits mag es sein, dass die Befürworter der Null- und Negativzinsen einem intellektuellen Irrtum unterliegen – so wie es ihn schon oft in der Wissenschaftsgeschichte gegeben hat. Andererseits wird die Null- und Negativzinspolitik aber auch von sozialistischen Kräften bewusst vorangetrieben, um die freie Marktwirtschaft zu zertrümmern. Marxistische Umstürzler sind vermutlich zutiefst erfreut und voller Unterstützung für das, was die großen Zentralbanken der Welt derzeit anrichten. Das sollte uns nicht erstaunen, denn in seinem «Manifest der Kommunistischen Partei» nennt Karl Marx «Massregeln, die die gesellschaftliche Umwälzung zum Kommunismus möglich machen sollen». Eine davon lautet: «Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschliesslichem Monopol».
Der Ökonom Joseph Alois Schumpeter (1883–1950) schrieb: «Der Zustand des Geldwesens eines Volkes ist ein Symptom aller seiner Zustände.» Wie treffend, könnte man sagen. Doch halt: Vielleicht verleiten Schumpeters Worte uns dann doch zu voreiligen Schlüssen. Denn man könnte mit Schumpeter meinen, dass das heutige Geldsystem, ein staatlich geführtes Geldmonopol, genau das ist, was die Mehrheit
der Menschen wollte und auch bekommen hat. Aber vielleicht stehen die Dinge auch anders. Und zwar so: Ein ungedecktes Geldsystem in staatlicher Hand, das anfänglich harmlos und akzeptabel erschien, ist nach und nach zu einem wahren Monstrum mutiert. Es hat die Volkswirtschaften und die Menschen zusehends von sich abhängig gemacht – von immer mehr Kredit und Geld zu immer tieferen Zinsen. Vermutlich liegt die Wahrheit, wie so häufig im Leben, in der Mitte: Das Problem ist zweifelsohne entstanden durch die Zustimmung und Duldung vieler. Es hat nunmehr aber eine Dimension angenommen, die viele sich vermutlich nicht herbeigewünscht haben.
Notwendigkeit einer marktwirtschaftlichen Geldreform
Die großen Finanz- und Wirtschaftskrisen haben ihre Ursache im staatlichen Geldmonopol, das ungedecktes Geld – produziert durch Kreditvergabe «aus dem Nichts» – in Umlauf bringt. Es sorgt nicht nur für finanzielle und wirtschaftliche Störungen, es beschädigt auch das gesamte gesellschaftliche-kulturelle Werte- und Moralsystem. Das staatliche Geldmonopol ist mit einer dauerhaft freiheitlichen und produktiven Gesellschaft nicht vereinbar; es erweist sich vielmehr als ihr Totengräber.
Es ist eine der ganz großen Aufgaben der Zeit, dem Staat das Geldmonopol zu entziehen und zu einer natürlichen Geldordnung zurückzukehren. Das kann nur gelingen, wenn die Menschen erkennen und akzeptieren, dass es keine gute Idee ist, dem Staat die Hoheit über das Geld zu gewähren; und dass es keine ökonomischen und ethischen Gründe gibt, den Staat zum Herren über das Geld zu machen. Was dringend gebraucht wird, ist ein freier Markt für Geld.
Literatur
- Cohen, M. R., Nagel, E. (2002 [1934]), An Introduction To Logic And Scientific Method, Simon Publications.
- Hoppe, H. H. (1983), «Kritik der kausalwissenschaftlichen Sozialforschung. Untersuchungen zur Grundlegung von Soziologie und Ökonomie», Studien zur Sozialwissenschaft, West-deutscher Verlag, Opladen.
- Hülsmann, J. G. (2008), The Ethics of Money Production, Ludwig von Mises Institute, Auburn.
- Mises, L. v. (1940), Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Editions Union, Genf.
- Polleit, T. (2014), Geldreform. Vom schlechten Staatsgeld zum guten Marktgeld, FinanzbuchVerlag, München.
- Rothbard, M. N. (2008), The Mystery of Banking, 2nd Edition, Ludwig von Mises Institute, Auburn.
- Tetens, H. (2006), Kants «Kritik der reinen Vernunft». Ein systematischer Kommentar, Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Thorsten Polleit, Jahrgang 1967, ist seit April 2012 Chefvolkswirt der Degussa. Er ist Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Adjunct Scholar am Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama, Mitglied im Forschungsnetzwerk „Research On money In The Economy“ (ROME) und Präsident des Ludwig von Mises Institut Deutschland. Er ist Gründungspartner und volkswirtschaftlicher Berater eines Alternative Investment Funds (AIF). Die private Website von Thorsten Polleit ist: www.thorsten-polleit.com. Hier Thorsten Polleit auf Twitter folgen.
Quelle: misesde.org
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