Vera Lengsfeld: Florenz in Zeiten von Corona

Wenn mir zu DDR-Zeiten jemand gesagt hätte, dass mehr als dreißig Jahre ver­gehen würden, ehe ich mich nach Florenz auf­mache, hätte ich ihn für ver­rückt erklärt. Aber so war es. Wenn die Welt offen­steht, eilt es nicht mehr. Man kann sie heute, morgen, oder auch erst über­morgen ansehen. In Zeiten von Corona kehrte das DDR-Gefühl, ein­ge­sperrt zu sein, uner­wartet zurück. Mit ihm der Druck, nun endlich anzu­sehen, was man schon lange wollte, aber nicht getan hat.

Für diese Reise habe ich mich extra impfen lassen. In Italien sind die Corona-Regeln noch strikter als in Deutschland. Es herrscht Impfpass-Zwang für alle. Zwar kommt man unkon­trol­liert ins Land, wird auch beim Ein­checken im Hotel nicht nach Imp­fungen oder Tests gefragt, kommt aber in kein Museum, keine Kirche und kein Restaurant ohne Impfpass. An vielen Stellen kommt noch eine Fie­ber­messung hinzu.

Florenz ist eine ganz besondere Stadt. Das fühlt man überall, aber in höchstem Maße am Dom mit seinem Cam­panile und dem Bap­tis­terium daneben. Die Fas­saden dieser Gebäude sind ganz in far­bigen Marmor gekleidet. Im Abend­licht, in dem ich das Ensemble zum ersten Mal sah, bot sich mir ein mär­chen­hafter, fast unwirk­licher Ein­druck. Das kostbare Material wird allen Bürgern und Besu­chern täglich dar­ge­boten. Dazu kommen die kunst­vollen Türen des Bap­tis­te­riums, mit ihren Reliefs, die in der Abend­sonne rot­golden schimmern. Ghi­bertis berühmte Bron­ze­ar­beiten sind für jedermann sichtbar. Das ist ein Merkmal der Stadt, die ihre Kunst­werke offen dar­bietet, um zu beein­drucken – ob Bürger oder Besucher, Freund oder Feind. Die Flo­ren­tiner wussten um die Wirkung des Schönen. Sie haben diese Schönheit zu ihrem Credo gemacht. „Piu bel­loche si può“, „so schön wie möglich“, sollten die Künstler im Auftrag der Stadt ihre Werke schaffen.

In einer Urkunde von 1294 kann man lesen, dass der Dom „voll­endet werden [sollte] mit jener höchsten und prunk­vollsten Groß­ar­tigkeit, wie man sie über­haupt erfinden kann. Als ein Werk des mensch­lichen Strebens und Ver­mögens, das nicht schöner und präch­tiger sein könnte“. Über­wältigt von dieser Schönheit fragte ich mich, wo die Sehn­sucht nach Schönheit hin­ge­raten ist. Bei den Archi­tekten, die unsere Städte mit gesichts­losen, faden Bauten über­ziehen, hat sie keine Heimat mehr. Aber auch die Her­vor­brin­gungen ange­sagter Künstler sind frei davon.

In Florenz läuft gerade eine Schau des Pro­jekt­künstlers Jeff Koons mit dem irre­füh­renden Titel „Shine“ im Palazzo Strozzi, die den Beweis antritt, dass heut­zutage grell-bunte Pom­pö­sität geschätzt und hoch bezahlt wird. Im Hof des Palastes steht eine quietsch­blaue Schöpfung aus Metall und Glanzlack, die Koons, wie angeblich alle seine Werke, von seinen Mit­ar­beitern anfer­tigen lässt. Als „Luxury and Degra­dation” wird das Objekt ange­priesen. Der Luxus beschränkt sich auf den Geld­beutel, eine Bedeutung von Degra­dation ist Ernied­rigung, was als Bezeichnung für diese Kunst ziemlich treffend ist.

Das Gegen­stück dazu prä­sen­tiert die Piazza Signoria; wahre Kunst und wahren Luxus. Beherrscht wird der Platz vom Palazzo Vecchio, einem strengen Bau­körper aus grob behauenem Gestein, die Referenz des damals herr­schenden Geistes an die Natur. Auf Dach und Turm der Zin­nen­kranz als Erin­nerung an die Stadt­mauer, das Symbol einer selbst­be­wussten städ­ti­schen Autonomie.

Die Strenge des Kom­mu­nal­pa­lastes wirkt abweisend, deshalb haben ihm die Flo­ren­tiner die Loggia dei Lanzi zur Seite gestellt, auf der in frü­heren Tagen Zere­monien und Emp­fänge statt­ge­funden haben. Von hier aus hat man aber auch einen unver­stellten Blick auf die Stelle, an der Savo­na­rolas Schei­ter­haufen errichtet wurde.

Heute ist die Loggia ein Frei­licht­museum der Skulp­turen. Auf­fällig ist, dass fast aus­schließlich Tötungs­szenen dar­ge­stellt werden. Sie ver­mitteln die Bot­schaft: Kommt uns nicht zu nahe. Donatellos „Judith“ mit dem Kopf von Holo­fernes und Michel­an­gelos „David“ ver­körpern die städ­tische Freiheit.

Aber auch das stolze und wehr­hafte Florenz wurde aus einer Republik zu einem Bestandteil des Her­zogtums Toskana. Spä­testens hier wird klar, dass Florenz ver­stehen heißt, seine Geschichte zu kennen.

Diese Geschichte ist für uns schon teil­weise ver­schüttet. Wie kam es zu einer förm­lichen Explosion in der Wis­sen­schaft, Technik und Kunst, durch die großen Geister, die von dieser Stadt ange­zogen wurden? Leo­nardo da Vinci entwarf hier Maschinen und Geräte, die uns ein Rätsel geworden sind. Die Spuren, die Michel­angelo hin­ter­lassen hat, bevor er sich nach Rom auf­machte, sind auch in ihrer Unvoll­endetheit genial. Donatello hat mit seinem nackten David die unbe­kleidete Figur in die Bild­hauerei zurück­ge­führt. Die Statuen entlang der Fassade der Uffizien sind eine Galerie mensch­licher Genia­lität: Dante, Donatello, Leo­nardo, Boc­c­accio, Giotto, aber auch Machia­velli und andere Größen, die heute weniger bekannt sind.

Das sind die Männer, die Europa geprägt und die Erfolgs­ge­schichte des Abend­landes geschrieben haben. Diese Geschichte ist eine christ­liche, da hilft alles Leugnen und Rela­ti­vieren nichts. Wenn man einen Tag in den Uffizien ver­bringt, dann weiß man, dass diese Wahrheit unum­stößlich ist. Kaum ein Kunstwerk ohne christ­liche Sym­bolik. Gleich­zeitig bekommt man vor­ge­führt, wie viel von dieser Geschichte bereits ver­gessen ist. In frü­heren Jahr­hun­derten wussten die Betrachter dieser Bilder und Skulp­turen, welche Geschichte sie erzählen, sie konnten mühelos die Bot­schaften ent­schlüsseln. Heute müssen wir mühsam danach suchen, was uns mit dem Dar­ge­stellten gesagt werden soll. Man muss sich in die Geschichte der Stadt ver­tiefen, wenn man sie ver­stehen will.

Über Jahr­hun­derte hat sich Florenz gegenüber den Feu­dal­mächten, dem Kaiser und dem Landadel behauptet. Riva­li­sie­rende Familien haben darüber gewacht, dass keine zu mächtig wurde. Aber schließlich wurde die Familie Medici zur Allein­herr­scherin. Von bür­ger­licher Her­kunft war sie aber bemüht, ihre Herr­schaft mittels För­derung der Künste nach­träglich zu legi­ti­mieren und ihren Anspruch zu sichern. Die Paläste der Medici und ihre Gärten prägen die Stadt noch heute. Der Boboli-Garten hinter dem Palazzo Pitti ist sogar zum Welt­kul­turerbe erklärt worden. In Florenz ist die Ver­gan­genheit noch mächtig, sie beschenkt die Gegenwart. Wer dieses Geschenk annimmt, ver­lässt die Stadt berei­chert und klüger.


Vera Lengsfeld — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog der Autorin www.vera-lengsfeld.de