Vera Lengsfeld: Die Ver­un­glimpfung von Gegnern der kom­mu­nis­ti­schen Dik­tatur – aktuell im “Tages­spiegel” und im ND

Nur Wenige wissen, dass die KZ Ora­ni­enburg und Buchenwald nach dem Sieg über die Nazi-Dik­tatur von den Sowjets als Lager genutzt wurden. Offi­ziell hieß es, dass dort nur Nazis ein­säßen. Tat­sache ist, dass es sich über­wiegend um Gegner der kom­mu­nis­ti­schen Dik­tatur han­delte. Einige von ihnen hatten vorher jah­relang in Gefäng­nissen und Lagern der Nazis gesessen. Eine Insassin im Spe­zi­al­lager der Sowjets war Gisela Gneist, die als 15-jährige Jugend­liche im Dezember 1945 ver­haftet wurde. Sie hatte sich geweigert, sich aktiv in einer anti­fa­schis­ti­schen Jugend­gruppe zu betä­tigen, denn als sie erstmals das Büro der soge­nannten Antifa betrat, wurde dieses von einem ehe­ma­ligen HJ-Führer geleitet. Außerdem hatte sie sich in eine Liste ein­ge­tragen, in welcher der Wille bekundet wurde, eine demo­kra­tische Partei zu gründen. Unter dem beliebten, aber auch in ihrem Fall fal­schen Vorwurf, einer so genannten Wehrwolf-Gruppe anzu­ge­hören, wurde sie nach dem berüch­tigten Artikel 58 des Straf­ge­setz­buches der Sowjet­union zu zehn Jahren Arbeits­lager ver­ur­teilt.

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In ihrem zweiten Leben war sie Mit­glied und jah­re­lange Vor­sit­zende der Arbeits­ge­mein­schaft Lager Sach­sen­hausen 1945–1950 e.V. Sie setzte sich aktiv dafür ein, dass das Spe­zi­al­lager der Sowjets und seine Ver­brechen in der Gedenk­stätte sichtbar sind. Das reicht aus, um die Frau, die 2006 vom Bun­des­prä­si­denten für ihre Ver­dienste mit dem Ver­dienst­kreuz am Bande geehrt wurde, immer wieder zu ver­un­glimpfen. Kürzlich erschien im “Tages­spiegel” vom 30.11.2021 der Schmäh­ar­tikel „Ora­ni­enburg und die Last der Geschichte“ von Alex­ander Fröhlich. Stefan Kri­kowski hat dazu einen Leser­brief ver­fasst, der nicht abge­druckt wurde. Deshalb doku­men­tiere ich ihn hier:

“Foto­grafen können mit der Wahl des Aus­schnitts, ihre Version der Wirk­lichkeit formen und dem Betrachter sug­ge­rieren, das Foto bilde das Geschehen objektiv ab. Aber auch die schrei­bende Zunft kann den Leser mani­pu­lieren. Alex­ander Fröhlich benutzt hierfür als erstes ganz klas­sisch die Über­schrift: “ins Rechts­extreme abge­driftet”. Hat Gisela Gneist nach dieser Wertung über­haupt noch eine Chance, als die integre Person wahr­ge­nommen zu werden, die wir kennen und schätzen gelernt haben? Wei­teres Framing: der Vater tritt bereits vor 1933 in die NSDAP ein; ein ehe­ma­liger SS-Offi­ziers­an­wärter war Mit­glied in der Gruppe, der auch Gisela Gneist sich ange­schlossen hatte; Kubit­scheck, etc. Spä­testens hier werden die meisten Leser ihr Urteil gefällt haben. Fällt es da noch auf, dass Gisela Gneist wenig Kon­kretes vor­ge­worfen, sondern vielmehr Wer­tungen über sie abge­geben wird? „Sie radi­ka­li­sierte sich“, „Sie habe ‚keine Berüh­rungs­ängste‘ zum Rechts­extre­mismus gezeigt.“ Wer ist da noch bereit die Wahl des Aus­schnitts zu ver­größern? Wer war diese Frau? Gisela Gneist wurde am 30. Dezember 1945 kurz vor ihrem 16. Lebensjahr wegen des sog. Werwolf-Ver­dachts in der DDR von Poli­zisten fest­ge­nommen und dem sowje­ti­schen Geheim­dienst über­geben. Nach näch­te­langen Ver­hören mit Folter und Miss­hand­lungen, ohne Rechts­bei­stand und Kontakt zu ihrer Familie wurde sie am 5. Februar 1946 zusammen mit wei­teren 28 meist Jugend­lichen aus Wit­ten­berge durch ein sowje­ti­sches Mili­tär­tri­bunal ver­ur­teilt. Neun Ange­klagte wurden zum Tode, einer zu 7 Jahren, Gisela Gneist und weitere 18 Mit­an­ge­klagten zu 10 Jahren Arbeits­lager ver­ur­teilt. Im Sep­tember 1946 wurden sie in das Spe­zi­al­lager Nr. 7 verlegt. Am 21. Januar 1950 wurde sie ent­lassen. Als eine der wenigen ihrer Gruppe hatte Gisela Gneist die jah­re­lange Haft in Sach­sen­hausen überlebt. Sach­sen­hausen, ein Ort, der doppelt belastet ist. Als streitbare und unbe­queme Vor­sit­zende der Arbeits­ge­mein­schaft Lager Sachen­hausen 1945–1950 setzte sie sich nach der Wie­der­ver­ei­nigung dafür ein, an die vielen zu erinnern, die als Unschuldige in diesem sowje­ti­schen Spe­zi­al­lager gestorben waren. 1995 wurden alle Mit­glieder der Wit­ten­berger Gruppe von der Gene­ral­staats­an­walt­schaft der rus­si­schen Föde­ration reha­bi­li­tiert. Über ihren jah­re­langen Streit mit dem dama­ligen Gedenk­stät­tenchef Günter Morsch berichtete der Tages­spiegel mehrfach, u.a. im August 2006. Bewusst oder unbe­wusst über­nimmt Alex­ander Fröhlich die einstige SED Agi­tation, nachdem es sich bei diesen Opfern um ehe­malige oder ver­kappte Faschisten und Nazis han­delte. Rerum cogno­scere causas lautet das Motto des Tages­spiegel. Trotzdem erscheint dort dieser Schmäh­ar­tikel. Wie es noch rück­sichts­loser geht, zeigt das einstige Zen­tral­organ der SED, ND, das abermals über Gneist urteilt: „Straße nach Nazi-Jung­mädel benannt“. Gisela Gneist starb am 22. März 2007 im Alter von 77 Jahren. 14 Jahre nach ihrem Tod kann Gisela Gneist sich gegen diesen Rufmord nicht wehren. Wer sie erlebt und begleitet hat, weiß um die Unhalt­barkeit der Vorwürfe”.

Stefan Kri­kowski, Sprecher der Lager­ge­mein­schaft Workuta / GULag Sowjetunion

Sprecher der Lager­ge­mein­schaft Workuta / GULag Sowjetunion


Vera Lengsfeld — Erst­ver­öf­fent­li­chung auf dem Blog der Autorin www.vera-lengsfeld.de