Von der Poli­ti­ker­dik­tatur in Deutschland

Nein, die fol­genden Zeilen sind keine Beschreibung des aktu­ellen Deutschland und des Erfolgs von Thilo Sar­razins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Aber sie lesen sich beklemmend aktuell:

„Es muß heute viele Deutsche geben, die ganz und gar nicht selbst­ge­fällig sind. Sonst wäre der spek­ta­kuläre Erfolg dieses Buches, das seit seinem Erscheinen auf der Best­seller-Liste steht, uner­klärlich. Doch auch das ist nicht allzu beru­higend. Dieser Erfolg, der nicht wirklich ein ’succès d’estime‘ ist, hat etwas Selt­sames. Das liegt nicht daran, daß B*** und alle, die mit der Regierung ver­bunden sind, das Buch öffentlich igno­rieren und alles in ihrer Macht Ste­hende tun, um es und seinen Autor privat zu dis­kre­di­tieren, sondern daran, daß sich die ehren­werte öffent­liche Meinung in ihrer Haupt­strömung ehr­erbietig feindlich geäußert hat – … Die Kluft zwi­schen dem unmit­tel­baren Erfolg des Buches und der von nahezu allen Organen der öffent­lichen Meinung geäu­ßerten Kritik scheint anzu­zeigen, daß es *** gelungen ist, viele zu erreichen, daß aber diese Vielen gerade jene sind, deren Mei­nungen und Über­zeu­gungen kaum in der Öffent­lichkeit ver­treten sind.“ 

Man wird an den ein­zigen anderen Best­seller, den *** jemals schrieb, unglücklich erinnert, nämlich an seine ‚Geistige Situation der Zeit‘, die, 1931 ver­öf­fent­licht, in der kurzen Zeit bis zu Hitlers Macht­er­greifung fünf Auf­lagen erreichte. Damals warnte *** vor der schnellen Auf­lösung der Wei­marer Republik, die Hitlers Sieg möglich machte. Die Art des Erfolgs, die ihm sei­nerzeit zuteil wurde, war ver­häng­nisvoll ähnlich: Seine Vor­ah­nungen einer dro­henden Kata­strophe wurden von allen ange­se­henen Kri­tikern ver­worfen, und er wurde von einer Min­derheit gelesen – einer Min­derheit, die zah­len­mäßig stark genug gewesen sein mag, um sich Gehör zu ver­schaffen, in Wirk­lichkeit aber ohn­mächtig war, das heißt fähig und willens, die allzu augen­fäl­ligen Rea­li­täten wahr­zu­nehmen, aber machtlos, sie zu ändern.“

Das schrieb Hannah Arendt im Vorwort zur ame­ri­ka­ni­schen Ausgabe von Karl Jaspers ‚Wohin treibt die Bun­des­re­publik?‘ im Jahre 1967. Ange­sichts der dama­ligen Großen Koalition prägte Jaspers den Begriff „Poli­tiker-Dik­tatur“, der nicht nur auf die Große Koalition, sondern auch auf die ange­strebte Jamaika-Koalition passt. Die Poli­tiker handeln und ver­handeln völlig los­gelöst von den Wün­schen und Erwar­tungen ihrer Wähler, ja, ohne jeden Rea­li­täts­bezug. Kürzlich äußerte Christian Lindner, die FDP müsse sich ihrer Regie­rungs­ver­ant­wortung stellen, um die Zer­störung Deutsch­lands vor­an­zu­bringen. Pardon, „Zer­störung“ hat er natürlich nicht gesagt, aber darauf wird es hin­aus­laufen, wenn die Politik der ver­gan­genen Jahre nahtlos fort­ge­setzt wird.

Quelle: Hannah Ahrendt: „In der Gegenwart. Übungen im poli­ti­schen Denken“, München (Piper TB) (2) 2017 S. 68 f.)

Vera Lengsfeld / vera-lengsfeld.de