By Rafael Matsunaga - Flickr, CC BY 2.0, Link

Börsen: Das war kein Gewitter – eher der Trendbruch

Nehmen wir an, Sie könnten sich eine Aktie zu 100 Euro kaufen, die eine sichere Divi­dende von 10 Euro pro Jahr bezahlt. Setzen Sie für den Kauf nur eigenes Geld ein, erzielen Sie folglich eine Rendite von 10 Prozent. Attrak­tiver wäre es, sich 100 Euro von der Bank zu leihen und gleich zwei Aktien zu kaufen. Diese zwei Aktien kosten 200 Euro und bringen Ihnen 20 Euro Ertrag. Gibt die Bank sich mit fünf Prozent Zinsen zufrieden, geben Sie 5 Euro an die Bank ab und 15 Euro bleiben bei Ihnen. Macht 15 Prozent Rendite auf die 100 Euro Eigen­ka­pital, die Sie ein­ge­setzt haben.
In der Praxis dürfte die Bank noch groß­zü­giger sein und sich mit nur 20 Prozent Eigen­ka­pital zufrieden geben. Sie können sich also zu Ihren 100 Euro noch 400 Euro von der Bank leihen und fünf Aktien kaufen. Von den 50 Euro Divi­dende gingen dann 20 Euro an die Bank (5 Prozent auf 400) und Ihnen blieben 30 Euro! Eine Rendite von dreißig Prozent auf ihrem ein­ge­setzten Kapital von 100 Euro. 
Das geht solange gut, wie der Ertrag, der neben der Aus­schüttung vor allem die Wert­stei­gerung beinhaltet, über den Zins­kosten liegt. Sobald die Zinsen – also die Kosten für die Spe­ku­lation – über den Wert­zu­wachs des auf Kredit gekauften Gutes steigen, kommt es zum scharfen Ein­bruch. Alle ver­suchen noch recht­zeitig zu ver­kaufen. Durch den Verkauf kommen die Ver­mö­gens­preise unter Druck und die, die auf Kredit gekauft haben, drohen Pleite zu machen. Schnell müssen sie der Bank ihr Geld zurück­geben, weil die Bank ja nur bis zu einem bestimmten Pro­zentsatz (die Bör­sianer nennen es „Margin“) beleiht. Ent­weder müssen die Spe­ku­lanten eigenes Geld nach­schießen, oder verkaufen. 
Heute ist es nicht anders. Nur dass diesmal nicht nur auf Kredit Aktien gekauft wurden, sondern auch Derivate wie zum Bei­spiel die Wette auf geringe Vola­ti­lität. Nun geht es also darum, Margin Calls zu bedienen. Dazu ver­kauft man, was geht.
Und hier der Kom­mentar in der Wirt­schafts­Woche von gestern:
Rei­ni­gendes Gewitter oder Trend­umkehr – das ist die Frage an den Börsen. Anleger sollten sich darauf vorbereiten. 
Die Akti­en­märkte der Welt sind unter Druck. Quasi über Nacht ist Vola­ti­lität an die Märkte zurück­ge­kehrt. Die Zeit stetig stei­gender Akti­en­kurse scheint vorbei. Stellt sich die Frage, ob es sich um ein rei­ni­gendes Gewitter handelt, welches die Grundlage für die Fort­setzung der Hausse legt oder um einen Trendumkehr. 
Trend­brüche erfolgen genauso wie die Ent­wicklung in den letzten Tagen. Ohne erkennt­lichen Grund und abrupt. Erst in der Rück­schau wird man fest­stellen können, ob es ein solcher Bruch war oder nicht. Und auch erst dann wird man die Ursachen sehen, die sich heute noch unter der Ober­fläche verstecken.
Ein­bruch kann nicht überraschen
Zunächst darf uns der Ein­bruch nicht über­ra­schen. Schon seit langem gab es gute Gründe, mit einer Kor­rektur zu rechnen, gar mit einem aus­ge­wach­senen Crash: rekordhohe Bewer­tungen, Sorg­lo­sigkeit der Inves­toren, zuneh­mende „passive Invest­ments“ die pro­zy­klisch wirken und die Illusion der täg­lichen Ver­füg­barkeit nähren, die geringen Cas­h­quoten der Inves­toren und nicht zuletzt die zuneh­mende Spe­ku­lation auf Kredit.
Der ent­schei­dende Grund für den Ein­bruch ist in der Zins­ent­wicklung der letzten Wochen zu sehen. Zunächst stiegen Zinsen und Aktien par­allel. Ange­sichts der guten Kon­junktur herrschte die Meinung vor, dass die Märkte, die eigentlich von nichts so sehr abhängen wie vom tiefen Zins­niveau, stei­gende Zinsen pro­blemlos ver­kraften können. Pro­mi­nente Inves­toren wie Bill Gross und Jeff Grundlach warnten hin­gegen früh­zeitig vor den Folgen stei­gender Zinsen. Den Risi­ko­be­reich sahen sie oberhalb von 2,60 Prozent für die 10jährige US-Staatsanleihe. 
Gross und Grundlach behielten Recht: nachdem die Marke von 2,7 Prozent erreicht wurde, kam der Akti­en­markt unter Druck. Die Inves­toren begannen Aktien zugunsten von Anleihen zu ver­kaufen. Sobald die Ver­käufe ein­setzten, kam es zu dem hier immer wieder beschrie­benen Aus­verkauf in Folge zu hoher Ver­schuldung der Markt­teil­nehmer. Leverage wirkt auf dem Weg nach oben wie ein Ren­di­te­turbo – auf dem Weg nach unten wie ein Brand­be­schleu­niger. Dies erklärt auch die Geschwin­digkeit des Umbruchs. Dies erklärt auch die Geschwin­digkeit des Umbruchs. Es sind Margin Calls, die den Absturz beschleu­nigen. Diesmal noch ver­stärkt durch die –eben­falls mit viel Kredit/Leverage betriebene – Spe­ku­lation auf anhaltend tiefe Volatilität.
Par­allele zu 2007
Ähnlich lief es übrigens im Jahre 2007 ab. Zunächst stiegen die Zinsen auf – aus heu­tiger Sicht unglaub­liche – fünf Prozent, bevor es an den Börsen schep­perte. Im wei­teren Verlauf des Jahres redu­zierten die Inves­toren ihre risi­ko­rei­cheren Invest­ments, vor allem im Bereich der Anleihen. Erste Pro­bleme im Finanz­sektor deu­teten sich an (Bear Stearns schloss die ersten Leveraged Fonds) und die Noten­banken reagierten. In der Folge erholten sich die Börsen wieder und star­teten erst 2008 zur rich­tigen Talfahrt.
Gut möglich, dass es diesmal auch so ist. Auf weitere Unter­stützung durch die Noten­banken setzen denn auch die Opti­misten, die betonen, dass den Noten­banken gar nichts anders übrig bleibt als wieder auf das Gas­pedal zu treten, wollen sie einen Kollaps ver­hindern. Ange­sichts der zuneh­menden Infla­ti­ons­ten­denzen ist das jedoch kei­neswegs garan­tiert. Hinzu kommt, dass die Noten­banken im Unter­schied zu 2007 nur noch wenig Munition übrig haben.
Ist es zu früh eine Par­allele zu 2007 aus­zu­rufen? Die Wirt­schaft sah damals wie heute gesund aus. Damals hatten wir eine Immo­bi­li­en­blase in den USA und einigen Ländern Europas. Heute haben wie eine „Alles-Blase“ von Aktien über Anleihen bis hin zu Immo­bilien und Kunst. Vor allem haben wir heute deutlich mehr Schulden! Weltweit liegen die Schulden mit über 215 Bil­lionen US-Dollar (325 Prozent des Welt-BIP) 70 Bil­lionen höher als noch vor zehn Jahren. In den Indus­trie­ländern wuchsen sie seit 2006 von 348 Prozent des BIP auf 390 Prozent, in den Schwel­len­ländern – vor allem von China getrieben – von 146 auf 215 Prozent. Eine hoch ver­schuldete Welt kann alles gebrauchen, nur keine höheren Zinsen.
Unter­neh­mens­an­leihen als Gefahr
Vor allem im Bereich der Unter­neh­mens­an­leihen droht Gefahr. Die Qua­lität der Schuldner ist in den letzten Jahren dra­ma­tisch gesunken. US-Unter­nehmen haben im letzten Jahr 1,14 Bil­lionen US-Dollar neue Schulden gemacht und waren noch nie so hoch ver­schuldet wie heute. Die Hälfte der im Russel-2000-Index ent­hal­tenen Unter­nehmen geben schon heute mehr als 30% des EBIT für den Zin­sen­dienst aus. Die Rating­agentur Standard & Poor befand bei 13.000 unter­suchten Unter­nehmen immerhin einen Anteil von 37 Prozent als „highly leveraged“ ver­glichen mit einem Anteil von 32 Prozent zum letzten Höhe­punkt im Jahre 2007.
Unter­nehmen auf Junk-Niveau zahlen durch­schnittlich weniger als sechs Prozent Zins. Immer mehr Kredite werden gegen geringe oder keine Sicherheit ver­geben. Die EZB hat den Markt so weit ver­zerrt, dass kre­dit­schwache euro­päische Unter­nehmen weniger zahlen als die größte Mili­tär­macht der Welt. Aus ver­gan­genen Kre­dit­zyklen wissen wir, dass die Gläu­biger von Unter­neh­mens­an­leihen im Falle einer Schieflage nur rund 35 Prozent ihres Ein­satzes wie­der­sehen. Eigentlich ein guter Grund, deutlich höhere Zinsen zu fordern. 
Anlei­hen­markt zeigte Warnsignal
Seit einem Jahr haben sich die Hoch-Risi­ko­an­leihen vom Akti­en­markt in den USA ent­koppelt. Während die Börse deutlich zulegte, sta­gnierten die High-Yield Fonds auf hohem Niveau. Ein erstes Warn­signal. Seit Jah­res­anfang fielen die Anleihen schlechter Schuldner. Ein wei­teres Warn­signal. Die Inves­toren nehmen die Risiken wieder wahr und wetten zugleich im Rekord­vo­lumen auf weiter fal­lende Anlei­he­kurse.
Setzt sich dieser Trend fort, dürften Aktien noch stärker in den Sog geraten. Stei­gende Zinsen ent­ziehen den Bewer­tungen end­gültig den Boden. Spe­ku­lation auf Kredit wird teurer, Anleihen wieder eine attraktive Alter­native zu Aktien. 
Alle Augen auf 10jährige Treasuries
Kein Wunder, dass die Markt­teil­nehmer gespannt auf den „Spareckzins“ des Welt­fi­nanz­systems blicken: die 10jährige US-Staats­an­leihe. Diese befindet sich in seit Anfang der 1980er Jahre in einem Bul­len­markt. Unter Schwan­kungen ging der Kurs kon­ti­nu­ierlich nach oben, die Zinsen sanken. 
Die Frage ist: dauert der Trend noch an oder wurde die Zins­wende ein­ge­leitet? Chart­tech­niker streiten über die ent­schei­dende Hürde für einen Wendepunkt. 
Nun mag man von Chart­technik halten was man will. Klar ist, dass, sollte die Rendite über drei Prozent steigen, ein selbst­ver­stär­kender Zins­an­stieg ein­setzen würde. Dazu ori­en­tieren sich zu viele Inves­toren an dieser Hürde. 
Inflation als Treiber?
Vor­aus­setzung für einen wei­teren Anstieg wäre wohl die nach­haltige Rückkehr der Inflation. In der Ver­gan­genheit habe ich mich mehrfach mit dem Thema der Inflation an dieser Stelle beschäftigt. Blickt man auf die letzten 50 Jahre, so muss man kon­ze­dieren, dass es zwar eine größere Infla­ti­ons­phase in den 1970er Jahren gab, unmit­telbar nachdem die Bindung des US-Dollars zum Gold auf­ge­hoben wurde. Seit Ende der 1980er Jahre ist die Inflation jedoch auf einem nach­haltig tiefen Niveau. Folge der Glo­ba­li­sierung, des stark gestie­genen welt­weiten Arbeits­kräf­te­an­gebots und der tech­no­lo­gi­schen Revo­lution, die per Defi­nition defla­tionär wirkt. 
Wer also eine Rückkehr der Inflation erwartet und damit stei­gende Zinsen, der muss eine nach­haltige Ver­än­derung des Arbeits­marktes und der Technik erwarten. In der Tat zeigen sich zunehmend Span­nungen im Arbeits­markt ab. Mit­ar­beiter werden knapp und Kapa­zi­täten sind zunehmend aus­ge­lastet. Die Löhne beginnen zu steigen, nicht nur bei uns in Deutschland, sondern auch anderswo. In den USA und gar in Japan! Der höhere Ölpreis dürfte eben­falls dazu bei­tragen, dass in der Welt höhere Infla­ti­ons­raten gemessen werden. Die Dol­lar­schwäche kaschiert letz­teres in der Eurozone noch, erhöht aber zugleich die Inflation in den USA. 
In diesen Infla­ti­ons­druck hinein steigern die Staaten ihre Aus­gaben. In Europa, weil sie vom Sparen der letzten Jahre genug haben (wobei die Kri­sen­länder nicht wirklich gespart haben, sie haben nur lang­samer Kredite auf­ge­nommen), in Deutschland, weil die auf 53% geschrumpfte Groko sich die Zustimmung der nicht-steu­er­zah­lenden Mehrheit der Gesell­schaft durch soziale Wohl­taten (zu Lasten der steu­er­zah­lenden) erkauft und in den USA, weil Donald Trump mit einem Infra­struk­tur­pro­gramm die USA tat­sächlich aus der Eiszeit bomben will, wie hier prophezeit.
Auf der anderen Seite inte­grieren sich immer mehr Länder in den glo­balen Arbeits­markt, die Lebens­ar­beits­zeiten nehmen zu, wie auch die Erwerbs­be­tei­ligung der Frauen. Nicht zu ver­gessen die Auto­ma­ti­sie­rungs­re­vo­lution, die viele Arbeits­plätze ver­nichten wird. Es ist also kei­neswegs aus­ge­macht, dass die der­zei­tigen Knapp­heits­sym­ptome von Dauer sind. Gut möglich, dass sie nur den Wen­de­punkt der Erholung seit 2009 markieren. 
Boden weg unter Märkten und Schuldenturm
Per­sönlich neige ich zur Auf­fassung, dass die Rückkehr der Inflation ein vor­rü­ber­ge­hendes Phä­nomen ist. Für eine wirk­liche Infla­ti­ons­welle müsste das Ver­trauen in die Geld­ordnung zer­rüttet werden. Anzeichen dafür gibt es reichlich, aller­dings dürfte es noch nicht so weit sein.
Dennoch werden die Infla­ti­ons­daten und damit die Zinsen in den kom­menden Monaten nach oben gehen. Damit ein­her­gehend wird sich die Lage an allen Märkten, die vom bil­ligen Geld abhängen ver­schärfen, von Unter­neh­mens­an­leihen über Aktien bis hin zu Immo­bilien und Kunst. Die Ver­mö­gens­werte weltweit werden unter dem zuneh­menden Druck auf die Schuldner leiden. Pleiten wie Steinhoff und Carillion könnten da nur die berühmten Kana­ri­en­vögel in der Koh­lemine sein. 
Erreichen wir die drei Prozent im US-Tre­asury? Ver­mutlich. Über­steigen wir die drei Prozent? Denkbar. Wäre das die Zins­wende und wir befinden uns auf dem Weg zurück in die „Nor­ma­lität“ von fünf bis sechs Prozent? Schwer vor­stellbar in einer Welt die noch nie so hoch gele­veraged war wie die unsere. Schul­den­türme und Ver­mö­gens­blasen hängen am tiefen Zins. So einfach kommen wir da nicht heraus. 
Drei Prozent und zurück
Stei­gende Zinsen tragen den Keim der Zins­senkung in sich. Je höher der Leverage einer Wirt­schaft, desto geringer die Toleranz für einen Zins­an­stieg. Spielen die Märkte Zins­an­stieg, ist es nur eine Frage der Zeit bis zum Crash. An Börsen und in der Real­wirt­schaft. Beides würde erneut die Noten­banken auf den Plan rufen, zu einer wohl letzten Runde der Sys­tem­rettung. Null­zinsen für alle lautet dann das Programm. 
Müßig zu sagen, dass die end­gültige Zer­rüttung des Geld­systems der logische nächste Schritt ist. Wenn 2007 ein Anstieg des Zinses für 10 jährige US-Staats­an­leihen auf fünf Prozent zu viel war und heute bei 2,7 Prozent Schluss ist, dann braucht man nicht viel Phan­tasie um vor­her­zu­sagen, dass die Zinsen beim nächsten Mal nicht mehr über Null steigen dürfen. Das Spiel auf Zeit von Staaten und Noten­banken nähert sich dem End­spiel.
Meine Emp­fehlung für Anleger bleibt unver­ändert: Risiko rausnehmen.
→ WiWo.de: „Kaufen oder ver­kaufen?“, 8. Februar 2018
Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com