Die linken Ideo­logen, Idea­listen und der Terror

Dys­topien haben derzeit Kon­junktur. Ob George Orwells „1984“ oder die „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley stehen auf den Best­sel­ler­listen. Der Untergang des Abend­landes wird beschworen, Exis­tenz­ängste werden kul­ti­viert. Aber wie viel Dys­topie steckt eigentlich in der Utopie? Ein spo­ra­di­scher Gang durch die Ideengeschichte.
Platons „Politeia“ als rigides Überwachungssystem
Die Wiege der klas­si­schen Sozi­al­utopie stand in Grie­chenland. Einst ent­zündete der Phi­losoph Platon die Fackel der Ver­nunft und gründete auf dieser seine Vision des Ide­al­staates. Die Abschaffung des Geldes, die sexuelle Revo­lution, eine ethisch legi­ti­mierte Eugenik sowie die Instru­men­ta­li­sierung der Kunst durch die Mäch­tigen und die damit zwangs­läufige Zensur waren Fun­da­mente einer Utopie wie sie sein Staats­entwurf, die „Politeia“, zeichnet. Der Ver­nunft traute Platon viel, dem Ein­zelnen wenig zu, der Demo­kratie gar nichts und in der Gleichheit sah er nur Insta­bi­lität. Die Herr­schaft Aus­er­wählter, die Mon­archie oder Aris­to­kratie galt ihm als Zeichen kühner Tugend und Sitt­lichkeit, die den Volks­pöbel auf Spur bringt, rigoros durch Über­wa­chung und Strafen. Seine „Politeia“ war nichts anders als ein auto­ri­täres System einer bes­seren Welt aus dem Geist, dem Logos errichtet, hier­ar­chisch gegliedert, tota­litär, kom­mu­nis­tisch und aus den Idealen des Wahren, Guten und Schönen abge­leitet. Was er im Namen der Menschheit erschuf, war schließlich ein rigider Wäch­ter­staat mit dem Phi­lo­sophen als König. Und so ist es in Platons Staat allein und maß­geblich die Ver­nunft selbst, die ohne kri­tische Kor­rektur ihre Herr­schafts­ty­rannei der Tugend ent­falten konnte. Wer dem idealen System nicht ent­sprach, dem drohten Sank­tionen. Die Ver­nunft war die Gesetz­ge­berin und Rich­terin zugleich, und sie klagte sich ein striktes Ent­weder-Oder ein.
Francis Bacon und die Macht der Eliten
Bei den Utopien nach Platon stand es nicht besser um die ein­zelne Kreatur. Joachim di Fiore gründete seine Utopie auf einem Tau­send­jäh­rigen Reich, das im Chi­li­asmus fina­li­siert wird, Tommaso Cam­pa­nellas „Son­nen­staat“ erklärte das Indi­viduum zum Nichts und die Gattung über alles, er träumte von einer päpst­lichen Uni­ver­sal­mon­archie und Hier­archie aus dem Geist der Son­nen­me­ta­physik. Thomas Morus’ „Utopia“ beschwor den Staat als kom­mu­nis­tisch-soziales Ideal samt Toleranz. Aber auch er scheitert letzt­endlich genauso am realen Men­schen und kommt ohne Über­wachen und Unfreiheit nicht aus. Auch Francis Bacon wollte mit seiner „Nova Atlantis“ die beste Staats­ver­fassung nie­der­schreiben, die gemäß der „besten aller mög­lichen Welten“ à la Leibniz möglich sei. Sein „Haus Salomon“ wird zum exklu­siven Ort freier Geister, einer Wis­sen­schafts­re­publik par excel­lence. Aber auch in der freien Wis­sen­schafts­re­publik, die heute noch Vorbild unserer Uni­ver­si­täten ist, bleibt die auto­ritäre Macht den Eliten vor­be­halten, Freiheit und Indi­vi­dua­lität spielen keine Rolle. Selbst die beste aller mög­lichen Welten bedarf einer struk­tu­rie­renden Ver­bots­kultur, die das Zusam­men­leben regelt.
Robes­pierre – der Tugend-Terrorist
Ein Utopist son­der­gleichen war einst Robes­pierre. Jaco­biner und Auf­klärer in einem, glü­hender Ver­fechter der Auf­klärung. Der gute Geist der Revo­lution, der Freiheit und Gleichheit auf seine Fahnen schrieb, die Tugend zum Ideal erhob und die Ver­nunft zum Ideal erklärte, wird seine Vision vom hei­ligen Thron der Gleichheit mit Blut über­gießen, wird zum „Blut­richter“ der Fran­zö­si­schen Revo­lution, der die Tugend­losen auf der Guil­lotine opfert. Jean-Jacques Rous­seaus Idee der frei­heit­lichen Über­ein­kunft in einen Gemein­willen, die volonté générale, wird ihm zum ord­nungs­po­li­ti­schen Grad­messer mit Abso­lut­heits­an­spruch. Wer Gemein­wille und Gemeinwohl, begriffen als die absolute und unhin­ter­gehbare Wahrheit angreift, hat nur die Wahl zwi­schen Akzeptanz oder Tod. Getreu der Maxime, dass Terror Läu­terung sei, wird er die Ter­ror­herr­schaft im Namen des wahren Guten legi­ti­mieren, um dem Gesell­schafts­vertrag den Weg zu bereiten. Ohne Tugend, so Robes­pierre, sei Terror ver­häng­nisvoll, ohne Terror die Tugend machtlos. Nur der Terror gegen das Ver­brechen ver­schaffe der Unschuld Sicherheit. Vor Lenin und Stalins „Gulags“ ent­zündete der Auf­klärer so eine „Säu­be­rungs­welle“ son­der­gleichen und legi­ti­mierte seinen „Tugend­staat“ durch die Ver­nichtung all ihrer Kri­tiker. Das Volk sei „durch Ver­nunft zu leiten und die Feinde des Volkes durch terreur zu beherr­schen“, erklärte Robes­pierre am 5. Februar 1794 vor dem Natio­nal­konvent. „Der Terror ist nichts anderes als unmit­telbare, strenge, unbeugsame Gerech­tigkeit; sie ist also Aus­fluss der Tugend; sie ist weniger ein beson­deres Prinzip als die Kon­se­quenz des all­ge­meinen Prinzips der Demo­kratie in seiner Anwendung auf die drin­gendsten Bedürf­nisse des Vaterlandes.“
Wie einst bei Platon, Cam­pa­nella, Morus oder Bacon – die Tugend lässt sich nur durch eine Ver­bots­kultur kul­ti­vieren und der Terror ist das not­wendige Band zur Erziehung des Men­schen, zu seiner wahr­haften Natur.
Marx – der Anti-Utopist und die sozia­lis­tische Staats- und Parteibürokratie
War Platon einst der Klas­siker der Staats­utopie, so Karl Marx, vor 200 Jahren geboren, der Klas­siker der Natio­nal­öko­nomie. Seine bril­lanten Ana­lysen zum Kapi­ta­lismus, zum Mehrwert und zur flä­chen­de­ckenden Aus­beutung, seine Vision einer klas­sen­losen Gesell­schaft und einer vor­über­ge­henden Dik­tatur des Pro­le­ta­riats sind aber kei­neswegs uto­pisch, sondern ver­danken sich der Umkehrung der Hegel­schen Dia­lektik. Staat spe­ku­la­tiver Selbst­ob­jek­ti­vierung des Geistes in seiner geschicht­lichen Aneignung, stellt Marx eben Hegel auf die Füße, erklärt nicht den Geist zum Prinzip der Geschichte, sondern die Materie und die Dia­lektik der Klas­sen­kämpfe. Marx war, gleichwohl von vielen vor­ge­worfen, eben kein Utopist. Der Trierer ist kein Freund von früh­ro­man­ti­scher Träu­merei gewesen, die Blaue Blume Novalis’ ist ihm fremd, die Ideen von Sozia­lismus und Kom­mu­nismus der Früh­so­zia­listen und Uto­piker Aus­druck blanker Bür­ger­lichkeit, die allesamt den Klas­sen­ant­ago­nismus negieren. Den fran­zö­si­schen „Uto­pisten“, Saint-Simo­nisten und Fou­rie­risten wirft er Mys­ti­zismus vor, ihre Utopien seien reine Gedan­ken­kon­struk­tionen – weit ent­fernt vom his­to­ri­schen Wachstum der Macht­ver­hält­nisse und des mas­sen­haften Elends. Und so ver­steht Marx den wis­sen­schaft­lichen Sozia­lismus im Unter­schied zu den Uto­pisten als eine not­wendige pro­zess­hafte und dia­lek­tische Ent­wicklung aus der jeweils konkret-his­to­ri­schen Situation heraus.
So sehr Marx Anti-Utopist war, so sehr wurde er für die Utopie des neuen, des sozia­lis­ti­schen Men­schen miss­braucht. Die neuen Uto­pisten, Lenin, Stalin und Mao-Tse-Tung ersetzten die Dik­tatur des Pro­le­ta­riats durch die Herr­schaft einer Staats- und Par­tei­bü­ro­kratie, abge­si­chert mit Polizei und Mili­tär­gewalt, Über­wa­chung, Bespit­zelung und Denun­ziation. Aus der Utopie der Befreiung wurde Bar­barei, Mil­lionen von Men­schen so zu Staats­feinden erklärt, depor­tiert, ver­nichtet und umge­bracht. Selbst linke Ideo­logen der 68er Gene­ration beschworen Terror und Gewalt gegen Anders­den­kende. Der Sozia­lismus Marxens ist in Staats­ka­pi­ta­lismus und Staats­ter­ro­rismus umge­schlagen, zum „roten Faschismus“, wie Wilhelm Reich in seinen Buch „Die Sexuelle Revo­lution“ kri­ti­sierte. Der Tota­li­ta­rismus und die faschis­toide Mas­sen­psy­cho­logie der Lenins und Stalins und des real exis­tie­renden Sozia­lismus zer­schlugen so die ursprüng­liche Idee des Sozia­lismus als eine Befreiung der arbei­tenden Men­schen aus den Zwängen von Herr­schaft und Aus­beutung. Das 20. Jahr­hundert hatte Marx’ Ideale voll­kommen kor­rum­piert und dis­kre­di­tiert und ihn mit dem Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) auf den Schrott­platz der Geschichte geschickt.
Das Grab der Utopien
Fazit: Ob bei den Utopien von Ikarien, der Hir­ten­idylle auf dem Pelo­ponnes, Arkadien oder Elysium – die Utopien, aus welchem Stoff sie auch geschneidert sind, enden allesamt im Geis­tes­terror, auf dem Schafott, der Guil­lotine oder in den KZ’ dieser Welt. Das An-sich-Gute ver­kehrt sich bra­chial in sein Gegenteil um. Und so trägt der Idea­lismus immer ein Stück Terror in sich. Überall obsiegt die Doktrin, und wer das Gute nicht will, muss dazu gezwungen werden – und koste es sein Leben. Ob bei den realen, sys­tem­im­manent-kri­ti­schen Utopien der Lenins und Marx’, spä­testens mit Stalins links­fa­schis­ti­schem Terror, Hitlers Holo­caust und im real exis­tie­renden Sozia­lismus fielen die Köpfe millionenfach.
Das Problem bei allen Utopien bleibt der Mensch in seinem So- und Dasein, in seiner Spie­ßer­idylle, in seiner Neigung zu Neid und Trieb­haf­tigkeit, im Hang zum Bösen und durch seine Freiheit zur Ent­schei­dungs­fä­higkeit. Und der Utopist sei­ner­seits erweist sich unge­wollt als Henker, dessen Ideen schließlich nur bra­chial wider die Men­schen­natur und gegen die ursprüng­liche Idee des Guten, Wahren und Schönen umzu­setzen sind.
Die Ver­nunft bedarf eines Korrektivs
Die Dik­tatur der Ver­nunft bedarf also einer Kor­rektur. Schon Pascal schrieb in seinen „Pensées VI, 358“: „Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will es, dass, wer einen Engel aus ihm machen will, ein Tier aus ihm macht.“ „Das Herz hat seine Gründe, die der Ver­stand nicht kennt.“ Und in 1 Könige 3, 5.9–10.16.22–28 fordert der weise Regent Salomon: „Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unter­scheiden ver­steht. Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren?“.
Wie gefährlich die Ver­nunft ist, wie sehr sie das Abgründige in sich trägt, haben viele, aber eben auch Sören Kier­ke­gaard und Papst Benedikt XVI. erkannt und mit ihrem Sprung in den Glauben darauf geant­wortet. Und für Papst Fran­ziskus ist es die Barm­her­zigkeit, denn sie allein „hat Augen, zu sehen, Ohren, zu hören, und Hände, um auf­zu­helfen.“ ‚Für Fukuyama bleibt es nach dem Untergang der tota­li­tären Regime – von Kom­mu­nismus und Faschismus – aus dem Geist der Utopie die liberale Demo­kratie auf der Basis der Grund­rechte, dem Rechts­staats­prinzip und der freien Markt­wirt­schaft – sie allein ist anti-utopisch.

 


Dr. Dr Stefan Groß für TheEuropean.de