By Rafael Matsunaga - Flickr, CC BY 2.0, Link

Wall Street: Eine Blase, die platzt?

Ein neues Modell hilft, Blasen an den Finanz­märkten zu erkennen und ergibt ein ein­deu­tiges Signal: Die Per­for­mance der Wall Street 2018 war eine Blase.
Schon mit dem Titel der heu­tigen Kolumne dürfte ich zwei­fachen Protest aus­lösen: Ist es über­haupt berechtigt, mit Blick auf die US-Börse von „Blase“ zu sprechen und selbst wenn, ist es dann nicht recht mutig, ange­sichts der beein­dru­ckenden Erholung seit Weih­nachten von einem „Platzen“ der Blase zu sprechen? 
Nun, nicht nur ich bin mit Blick auf die US-Börse skep­tisch. Auch andere Beob­achter erwarten ange­sichts des immer noch hohen Bewer­tungs­ni­veaus für die kom­menden Jahre im besten Fall nur maue Renditen. 
Zu den ange­se­hensten Skep­tikern gehört der Bos­toner Ver­mö­gens­ma­nager GMO. Regel­mäßig ver­öf­fent­licht GMO inter­es­sante Studien zu den Ent­wick­lungen an den Kapi­tal­märkten und jedes Jahr eine Pro­gnose zu den zu erwar­tenden Ren­diten über einen Zeitraum von sieben Jahren. Im Dezember 2018 zeigte die Analyse, dass mit Aktien aus den USA nicht viel Geld zu ver­dienen sein wird. Zu hoch war die Bewertung noch, trotz der bereits erfolgten Korrektur. 
Haben wir es mit einer Blase zu tun?
Doch deshalb gleich von „Blase“ zu sprechen, geht den meisten Beob­achtern zu weit. Zwar kommen sie um die hohe Bewertung der US-Börse nicht herum, die immerhin auf dem Niveau von 1929 liegt. Nur zur Jah­res­wende 1999/2000 waren US-Aktien noch teurer. Ande­rer­seits ver­weisen sie auf das Fehlen von Euphorie. Noch geben Fri­seure, Schuh­putzer und Taxi­fahrer keine Akti­en­tipps, also ist es noch nicht so weit, lautet die Schluss­fol­gerung. In der Tat lassen sich bei allen Blasen des letzten Jahr­hun­derts ent­spre­chende Anek­doten finden, die unter­streichen, dass Spe­ku­lanten getrieben von der Über­zeugung, „diesmal sei alles anders“ oder einfach nur aus der Angst, etwas zu ver­passen, die Kurse immer weiter nach oben getrieben haben. 
Eine neue Methode ver­sucht nun, „Euphorie“ quan­ti­tativ zu erfassen. Nicht mehr Anek­doten sollen Aus­kunft über den Zustand des Marktes geben, sondern die Dynamik der Akti­en­kurs­ent­wicklung selbst. GMO berichtet darüber in einer Studie, die unten ver­linkt ist. 
Grund­über­legung hinter dem Modell – wie auch hinter der Ren­di­te­pro­gnose von GMO für ver­schiedene Asset­klassen – ist die Annahme, dass sich Bewer­tungen über Zeit ihrem lang­fris­tigen Durch­schnitt annähern. Wenn bei­spiels­weise das Kurs-Gewinn-Ver­hältnis im Durch­schnitt der letzten Jahr­zehnte bei 10 liegt und heute wird das 15-Fache bezahlt, geht das Modell davon aus, dass sich die Bewertung über die kom­menden Jahre wieder 10 annähert. Das gilt auch im umge­kehrten Fall, wenn eine Bewertung unter 10 ist. Dann wird erwartet, dass sich die Bewertung erhöht. Man spricht von der Kon­vergenz zum Durch­schnitt. („Mean Reversion“)
Blasen ent­stehen dann, wenn gute Zeiten herr­schen und die Erwartung im Markt ist, dass die Zeiten noch besser werden. Es sind also gute Fun­da­men­tal­daten, die zu noch höheren Erwar­tungen führen, was die Bewer­tungen zusätzlich treibt. Was dann pas­siert, ist das Gegenteil von „Mean Reversion“, es ist „Mean Aversion“, also eine beschleu­nigte Ent­wicklung in die „falsche“ Richtung. Statt sich der nor­malen Bewertung anzu­nähern, beschleunigt sich die Ent­wicklung in die andere Richtung. Immer schneller werden immer höhere Preise bezahlt. 
Euphorie zeigt sich also an einer beschleu­nigten Ent­fernung von lang­fristig nor­malen Bewer­tungs­ni­veaus. Während meistens eine Tendenz in Richtung der lang­fris­tigen Durch­schnitts­werte besteht, handelt es sich bei „Mean Aversion“ um seltene Ausnahmen. 
Seit 1881 gab es ins­gesamt nur fünf Perioden mit sich beschleu­ni­gender „Mean Aversion“. In zwei Fällen war es eine extreme Unter­be­wertung – also das Gegenteil einer Blase. Dies war nach dem Ersten Welt­krieg der Fall, als die USA die „ver­gessene“ Depression durch­lebten und Anfang der 1980er-Jahre zum Höhe­punkt der Infla­ti­ons­krise. In beiden Fällen folgten sehr gute Börsenjahre. 
Umge­kehrt war es 1929, Ende der 1990er-Jahre und 2017–2018. Hier trafen hohe Bewer­tungen mit einer beschleu­nigten Ent­fernung von den lang­fris­tigen Durch­schnitts­be­wer­tungen zusammen. 
Während es unstrittig ist, dass wir es 1929 und Ende der 1990er-Jahre mit Blasen zu tun hatten, ist das Urteil über das Jahr 2018 noch offen. Die Daten ergeben aller­dings ein ein­deu­tiges Bild und zeigen eine beschleu­nigte Auf­wärts­be­wegung über das fun­da­mental gerecht­fer­tigte Bewer­tungs­niveau von Anfang 2017 bis zum dritten Quartal 2018. Wer genau hin­schaut, kann mit Blick auf Bitcoin, Big Data und Künst­liche Intel­ligenz auch Anzeichen für eine Euphorie ent­decken. Auch wenn wir es erst in einigen Jahren genau wissen, spricht viel dafür, dass wir es mit einer Blase zu tun hatten. 
Was spricht dafür, dass sie jetzt platzt?
Blasen platzen, sobald die Euphorie nicht weiter zunimmt. Es genügt bereits, wenn positive Erwar­tungen nicht mehr posi­tiver werden. Dann geht der Blase die Luft aus. So auch im letzten Quartal 2018. Obwohl die Gewinne pro Aktie der im S&P 500 ent­hal­tenen Unter­nehmen im letzten Jahr um 28 Prozent gestiegen sind und ein wei­teres Gewinn­wachstum von zwölf Prozent erwartet wurde, ist der Markt um 14 Prozent gesunken. 
Ursache war der Rückgang der Erwar­tungen. Zwar wurde immer noch erheb­liches Wachstum der Gewinne erwartet, aber weniger als zuvor. Hinzu kamen die Sorgen vor den Folgen der Ver­knappung des Geldes durch die US-Notenbank und der sich ver­schär­fende Han­dels­kon­flikt mit China. 
Das Modell zeigt deutlich was pas­siert. Die Periode der beschleu­nigten „Mean Aversion“ ist umge­schlagen in eine beschleu­nigte „Mean Reversion“, also einer Annä­herung an die fun­da­mental gerecht­fer­tigten Werte. Genauso sah es nach dem Platzen der Blasen 1929 und im Jahr 2000 aus. Vieles spricht also dafür, dass wir erst den Beginn der Kor­rektur an der US-Börse gesehen haben und vor deutlich tie­feren Kursen stehen. 
Ein­seitig darauf wetten sollte man dennoch nicht. Denn selbst wenn das Modell Blasen ein­deutig iden­ti­fi­zieren kann, eignet es sich doch nicht zum Timing. So deutete sich 1998 im Zuge der LTCM-Krise ein Platzen der Dotcom-Blase an, es dauerte aber noch weitere 18 Monate, bis es wirklich so weit war. 
Was tun?
Ich finde das Modell zur Bestimmung von Blasen über­zeugend. Aller­dings sehe auch ich die Schwie­rigkeit des Timings der wei­teren Ent­wicklung. Gut möglich, dass eine Flut guter Nach­richten zu einer Rückkehr der Euphorie führt und die Börse noch ein paar starke Monate vor sich hat. Wer da mit­spielen will, kann das tun, muss sich aber bewusst sein, dass ein Trend­wechsel abrupt und dras­tisch aus­fallen dürfte. Vor allem ist er schwer vor­her­zu­sagen, basiert er doch auf einem Stim­mungs­um­schwung, den man wohl erst im Nach­hinein erkennt. 
GMO stellt eben­falls die Frage nach der idealen Vor­ge­hens­weise und kommt zu der ein­fachen Emp­fehlung: so wenig US-Aktien besitzen wie möglich. 

Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com