Macrons Hirn­ge­spinste und Andro­hungen an alle EU-Bürger im Wortlaut

Diese Woche ver­öf­fent­lichte der der­zeitige fran­zö­sische Prä­sident Emmanuel Macron, dessen Partei La Répu­blique en Marche bei der EU-Wahl im Mai unter 20 Prozent und hinter Marine Le Pens Ras­sem­blement national zurück­zu­fallen droht, einen offenen Brief an die „Bür­ge­rinnen und Bürger Europas“. JFB doku­men­tiert das gesamte Schreiben im Ori­gi­nal­wortlaut inklusive einer kurzen Vorbemerkung.
Vor­be­merkung
Emmanuel Macron dürfte das Wasser bis zum Hals stehen. Die Gelb­wes­ten­be­wegung in Frank­reich bekommt und bekommt er nicht in den Griff, auch nicht mit Poli­zisten, die schwer bewaffnet gegen die eigenen Lands­leute vor­gehen. Im Februar standen nur noch drei von zehn Fran­zosen hinter ihrem eigenen Prä­si­denten, Tendenz weiter sinkend. Bei der EU-Wahl im Mai droht seine La Répu­blique en Marche unter 20 Prozent und hinter Marine Le Pens Ras­sem­blement national zurück­zu­fallen. Sei es aus Ver­zweiflung oder aus Kalkül wendet sich Macron nun diese Woche in einem offenen Brief an alle Bürger der im Moment noch 28 EU-Staaten.

Hier bestellen!

In diesem Schreiben ver­sucht er einer­seits, den Wählern Angst ein­zu­jagen, weil „Europa noch nie in so großer Gefahr“ gewesen sei, ande­rer­seits ver­sucht er sie mit pri­mi­tiven schwarz-weiß Formeln zu beschwören, dass natio­nales Vor­gehen keine Lösung sei, alles Heil liege aus­schließlich in der EU, glo­ri­fi­ziert unbeirrt von allen Tat­sachen den im Grunde schon geschei­terten Euro, der seit Jahren nur noch künstlich am Leben gehalten wird, und der die davon betrof­fenen Länder mehr spaltet als alles andere, setzt immer wieder fak­ten­widrig die EU mit Europa gleich und droht drittens offen und völlig undif­fe­ren­ziert jeg­licher Oppo­sition, die sich gegen den Kurs der all­mäh­lichen Auf­lösung der Natio­nal­staaten und ihrer demo­kra­ti­schen Sou­ve­rä­nität stark macht, die er rund­herum und pau­schal als „Hassrede“ diffamiert.
Außerdem kündigt er viertens an, um die Freiheit zu schützen, die Frei­heits­rechte noch weiter ein­schränken zu wollen. (Ein grö­ßerer Hohn auf den Libe­ra­lismus ist wohl kaum vor­stellbar, wenn sogar anderen Posi­tionen das Wort ent­zogen wird.) Sodann will er fünftens Europa für die Zukunft Afrikas ver­ant­wortlich machen und sechstens alle Politik einem großen Ziel unter­ordnen, das in seinen Augen über allem stehen muss: unsere „Kli­ma­schuld“ zu begleichen und das wohl mit allen Mitteln. Lesen Sie hier Macrons Schreiben im ori­ginal Wortlaut.
Emmanuel Macrons offener Brief
Bür­ge­rinnen und Bürger Europas,
Wenn ich mir heute erlaube, mich direkt an Sie zu wenden, dann tue ich das nicht nur im Namen der Geschichte und der Werte, die uns einen, sondern weil dringend gehandelt werden muss. In wenigen Wochen wird die Euro­pawahl über die Zukunft unseres Kon­ti­nents ent­scheiden. Noch nie seit dem Zweiten Welt­krieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr.
Der Brexit ist dafür ein Symbol. Ein Symbol für die Krise in Europa, das nicht ange­messen auf die Schutz­be­dürf­nisse der Völker ange­sichts der Umwäl­zungen in der heu­tigen Welt reagiert hat. Aber auch ein Symbol für die Falle, in der sich Europa befindet. Die Falle ist nicht die Mit­glied­schaft in der Euro­päi­schen Union, sondern die Lüge und die Ver­ant­wor­tungs­lo­sigkeit, die sie zer­stören könnten. Wer hat den Briten die Wahrheit über ihre Zukunft nach dem Brexit gesagt? Wer hat ihnen gesagt, dass sie keinen Zugang mehr zum euro­päi­schen Markt haben werden? Wer hat die Gefahren für den Frieden in Irland durch die Rückkehr zu eins­tigen Grenzen ange­sprochen? Eine natio­na­lis­tische Abschottung hat nichts anzu­bieten, sie bedeutet Ablehnung ohne jeg­liche Per­spektive. Und diese Falle bedroht ganz Europa: Jene, die mittels fal­scher Behaup­tungen die Wut der Men­schen aus­nutzen, ver­sprechen alles Mög­liche und sein Gegenteil.
Gegen diese Mani­pu­la­tionen müssen wir uns zur Wehr setzen. Stolz und nüchtern. Wir müssen zual­lererst betonen, dass das ver­einte Europa ein his­to­ri­scher Erfolg ist – die Ver­söhnung eines zer­störten Kon­ti­nents durch ein ein­zig­ar­tiges Projekt für Frieden, Wohl­stand und Freiheit. Das dürfen wir nie ver­gessen. Und dieses Projekt schützt uns auch heute noch. Welches Land kann sich allein der aggres­siven Stra­tegien der Groß­mächte erwehren? Wer kann allein seine Unab­hän­gigkeit von den Internet-Giganten behaupten? Wie könnten wir ohne den Euro, der die gesamte EU stark macht, den Krisen des Finanz­ka­pi­ta­lismus wider­stehen? Europa, das sind auch tau­sende all­täg­liche Pro­jekte, durch die sich das Bild unserer Land­striche geändert hat, ein reno­viertes Gym­nasium, eine neue Straße, ein schneller Zugang zum Internet, der endlich ein­ge­richtet wird. Dieser Kampf muss tag­täglich geführt werden, denn weder Frieden noch Europa sind Selbst­ver­ständ­lich­keiten. Ich führe ihn im Namen Frank­reichs ohne Unterlass, um Europa vor­an­zu­bringen und sein Modell zu ver­tei­digen. Wir haben bewiesen, dass auch als uner­reichbar Gel­tendes – eine gemeinsame euro­päische Ver­tei­digung oder der Schutz sozialer Rechte – möglich ist.
Aber es muss mehr getan werden und schneller. Denn die andere Falle ist, dass wir uns mit dem Status quo abfinden und resi­gnieren. Ange­sichts der glo­balen Umwäl­zungen sagen uns die Bür­ge­rinnen und Bürger nur allzu oft: „Wo ist Europa? Was unter­nimmt die EU?“  Europa ist in ihren Augen ein see­len­loser Markt geworden. Aber Europa ist nicht nur ein Markt, es ist ein Projekt. Ein Markt ist durchaus nützlich, aber er darf nicht die Not­wen­digkeit schüt­zender Grenzen und eini­gender Werte ver­gessen machen. Die Natio­na­listen irren, wenn sie behaupten, sie schützten unsere Iden­tität durch den Rückzug aus Europa. Denn es ist die euro­päische Zivi­li­sation, die uns eint, uns frei macht und uns schützt. Aber all die­je­nigen, die nichts ändern wollen, irren eben­falls, denn sie ver­leugnen die Ängste, die sich quer durch unsere Völker ziehen, die Zweifel, die unsere Demo­kratien aus­höhlen. Unser Kon­tinent steht an einem Schei­de­punkt, an dem wir gemeinsam in poli­ti­scher und kul­tu­reller Hin­sicht die Aus­ge­staltung unserer Zivi­li­sation in einer sich ver­än­dernden Welt neu erfinden müssen. Das ist der Moment des Neu­be­ginns in Europa. Deshalb biete ich Ihnen als Maß­nahme gegen Abschottung und Spaltung an, diesen Neu­beginn gemeinsam anhand von drei Ambi­tionen zu gestalten – Freiheit, Schutz und Fort­schritt.

Unsere Freiheit verteidigen

Das euro­päische Modell beruht auf der Freiheit des Men­schen, auf der Vielfalt der Mei­nungen und des Schaffens. Unsere wich­tigste Freiheit ist die demo­kra­tische Freiheit, unsere Volks­ver­treter zu wählen, während bei jeder Wahl fremde Mächte unser Wahl­ver­halten zu beein­flussen suchen. Ich schlage die Gründung einer euro­päi­schen Agentur für den Schutz der Demo­kratie vor, die in jeden Mit­glied­staat euro­päische Experten ent­senden wird, um seine Wahlen vor Hacker­an­griffen und Mani­pu­la­tionen zu schützen. Im Sinne dieser Unab­hän­gigkeit sollten wir auch die Finan­zierung euro­päi­scher poli­ti­scher Par­teien durch fremde Mächte ver­bieten. Wir müssen durch EU-weite Rege­lungen Hass- und Gewalt­kom­mentare aus dem Internet ver­bannen, denn die Achtung des Ein­zelnen ist die Grundlage unserer Kultur der Würde.

Unseren Kon­tinent schützen

Die Euro­päische Union wurde für die Aus­söhnung innerhalb ihrer Grenzen geschaffen und hat darüber die Rea­li­täten der Welt aus den Augen ver­loren. Aber ein Gefühl der Zuge­hö­rigkeit zu einer Gemein­schaft kann nur ent­stehen, wenn diese Grenzen hat, die sie beschützt. Eine Grenze bedeutet Freiheit in Sicherheit. Deshalb müssen wir den Schengen-Raum neu über­denken: Alle, die ihm ange­hören wollen, müssen Bedin­gungen für Ver­ant­wortung (strenge Grenz­kon­trollen) und Soli­da­rität (gemeinsame Asyl­po­litik mit ein­heit­lichen Regeln für Aner­kennung und Ablehnung) erfüllen. Eine gemeinsame Grenz­po­lizei und eine euro­päische Asyl­be­hörde, strenge Kon­troll­be­din­gungen, eine euro­päische Soli­da­rität, zu der jedes Land seinen Teil bei­trägt, unter der Auf­sicht eines Euro­päi­schen Rats für innere Sicherheit. Ich glaube ange­sichts der Migration an ein Europa, das sowohl seine Werte als auch seine Grenzen beschützt.
Die gleichen Anfor­de­rungen müssen an die Ver­tei­digung gestellt werden. Dort wurden seit zwei Jahren erheb­liche Fort­schritte gemacht, aber wir müssen ein klares Ziel setzen. Wir müssen unsere unent­behr­lichen Ver­pflich­tungen in einem Vertrag über Ver­tei­digung und Sicherheit fest­legen, im Ein­klang mit der NATO und unseren euro­päi­schen Ver­bün­deten: Erhöhung der Mili­tär­aus­gaben, Anwen­dungs­fä­higkeit der Klausel über die gegen­seitige Ver­tei­digung, Euro­päi­scher Sicher­heitsrat unter Ein­be­ziehung Groß­bri­tan­niens zur Vor­be­reitung unserer gemein­samen Entscheidungen.
Unsere Grenzen müssen auch einen gerechten Wett­bewerb gewähr­leisten. Welche Macht der Welt nimmt es hin, weiter Handel mit den­je­nigen zu treiben, die keine ihrer Regeln ein­halten? Wir können nicht alles hin­nehmen, ohne zu reagieren. Wir müssen unsere Wett­be­werbs­po­litik refor­mieren, unsere Han­dels­po­litik neu aus­richten: in Europa Unter­nehmen bestrafen oder ver­bieten, die unsere stra­te­gi­schen Inter­essen und unsere wesent­lichen Werte unter­graben, wie Umwelt­stan­dards, Daten­schutz und eine Ent­richtung von Steuern in ange­mes­sener Höhe; und in stra­te­gi­schen Branchen und bei öffent­lichen Auf­trägen zu einer bevor­zugten Behandlung euro­päi­scher Unter­nehmen stehen, wie es unsere Kon­kur­renten in den USA und in China tun.

Zum Geist des Fort­schritts zurückkehren

Europa ist keine Macht zweiten Ranges. Europa als Ganzes spielt eine Vor­rei­ter­rolle, denn es hat von jeher die Maß­stäbe für Fort­schritt gesetzt. Dazu muss es ein Projekt anbieten, dass eher dem Zusam­men­wirken als der Kon­kurrenz dient: In Europa, wo die Sozi­al­ver­si­cherung erfunden wurde, muss für alle Arbeit­neh­me­rinnen und Arbeit­nehmer, von Ost nach West und von Nord nach Süd, eine soziale Grund­si­cherung ein­ge­führt werden, die ihnen gleiche Bezahlung am gleichen Arbeits­platz und einen an jedes Land ange­passten und jedes Jahr gemeinsam neu ver­han­delten euro­pa­weiten Min­destlohn gewährleistet.
Wieder an die Idee des Fort­schritts anzu­knüpfen bedeutet auch, sich an die Spitze des Kampfes für unsere Umwelt zu stellen. Werden wir unseren Kindern in die Augen blicken können, wenn wir nicht auch unsere Kli­ma­schuld begleichen? Die Euro­päische Union muss ihr Ziel fest­legen – Redu­zierung der CO2-Emis­sionen auf Null bis 2050, 50 Prozent weniger Pes­tizide bis 2025 – und ihre Politik diesem Ziel unter­ordnen: eine Euro­päische Kli­mabank für die Finan­zierung des öko­lo­gi­schen Wandels, eine euro­päische Kon­troll­ein­richtung für einen wirk­sa­meren Schutz unserer Lebens­mittel; eine vor der Bedrohung durch Lob­by­ismus schüt­zende und unab­hängige wis­sen­schaft­liche Bewertung von Umwelt und Gesundheit gefähr­denden Sub­stanzen usw. Dieser Impe­rativ muss all unserem Handeln zugrunde liegen: von der Zen­tralbank bis hin zur Euro­päi­schen Kom­mission, vom EU-Haushalt bis hin zum Inves­ti­ti­onsplan für Europa – alle unsere Insti­tu­tionen müssen den Schutz des Klimas zum Ziel haben.

Hier bestellen!

Fort­schritt und Freiheit, das bedeutet von seiner Arbeit leben zu können, und um Arbeits­plätze zu schaffen, muss Europa vor­aus­planen. Deshalb muss es nicht nur die Internet-Giganten durch die Schaffung einer euro­päi­schen Über­wa­chung der großen Platt­formen (schnellere Strafen bei Ver­stößen gegen Wett­be­werbs­regeln, Trans­parenz der Algo­rithmen usw.) regu­lieren, sondern auch die Inno­vation finan­zieren, indem es den neuen Euro­päi­schen Inno­va­ti­onsrat mit einem Budget aus­stattet, das mit dem in den USA ver­gleichbar ist, um sich an die Spitze der neuen tech­no­lo­gi­schen Umwäl­zungen wie der Künst­lichen Intel­ligenz zu stellen.
Ein welt­of­fenes Europa muss sich Afrika zuwenden, mit dem wir einen Pakt für die Zukunft schmieden müssen. Durch die Aner­kennung eines gemein­samen Schicksals, durch die Unter­stützung seiner Ent­wicklung auf ambi­tio­nierte und nicht auf zurück­hal­tende Weise: Inves­ti­tionen, Uni­ver­si­täts­part­ner­schaften, Schul­un­ter­richt für Mädchen usw.
Freiheit, Schutz, Fort­schritt. Auf diesen Säulen muss unser Neu­beginn in Europa ruhen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Natio­na­listen, die keine Lösungen anzu­bieten haben, die Wut der Völker aus­nutzen. Wir dürfen nicht Schlaf­wandler in einem erschlafften Europa sein. Wir dürfen nicht wei­ter­machen wie bisher und uns auf Beschwö­rungs­formeln beschränken. Der euro­päische Huma­nismus erfordert Handeln. Und überall möchten die Bür­ge­rinnen und Bürger am Wandel teil­haben. Deshalb sollten wir noch vor Ende dieses Jahres mit den Ver­tretern der EU-Insti­tu­tionen und der Staaten eine Euro­pa­kon­ferenz ins Leben rufen, um alle für unser poli­ti­sches Projekt erfor­der­lichen Ände­rungen vor­zu­schlagen, ohne Tabus, ein­schließlich einer Über­ar­beitung der Ver­träge. Zu dieser Kon­ferenz sollten Bür­ger­panels hin­zu­ge­zogen und Aka­de­miker, Sozi­al­partner und Ver­treter der Reli­gionen gehört werden. Sie wird einen Fahrplan für die Euro­päische Union fest­legen, indem sie die wich­tigsten Prio­ri­täten in kon­krete Maß­nahmen umsetzt. Wir werden uns nicht in allem einig sein, aber was ist besser: ein erstarrtes Europa oder ein Europa, das vor­an­schreitet, zwar nicht immer im Gleich­schritt, aber offen für alle?
In diesem Europa werden die Völker ihr Schicksal wieder wirklich in die Hand genommen haben; in diesem Europa wird Groß­bri­tannien, da bin ich sicher, einen voll­wer­tigen Platz finden.
Bür­ge­rinnen und Bürger Europas, die Sack­gasse des Brexit ist eine Lehre für uns alle. Aus dieser Falle müssen wir uns befreien und der kom­menden Wahl und unserem Projekt Sinn ver­leihen. Ihnen obliegt die Ent­scheidung, ob Europa und die Werte des Fort­schritts, die es ver­tritt, mehr sein sollen als ein Inter­mezzo in der Geschichte. Das ist die Ent­scheidung, die ich Ihnen anbiete, damit wir gemeinsam den Weg eines Neu­be­ginns in Europa betreten.
Emmanuel Macron

Jürgen Fritz — www.juergenfritz.com

Quelle: ÉLYSÉE – Für einen Neu­beginn in Europa