Foto: http://en.kremlin.ru

Neuer Flücht­lings­strom? EU bricht Deal mit Türkei, die Medien ver­schweigen die ent­schei­denden Details

Die Türkei könnte die Grenzen wieder für Flücht­linge in die EU öffnen und die Situation von 2015 würde sich wie­der­holen. Der Grund ist, dass die EU ihren Teil von Merkels Flücht­lingsdeal nicht einhält. Nun hat die deutsche Presse einen Weg gefunden, darüber zu berichten und der Türkei die Schuld zu geben. Wie das funk­tio­niert, schauen wir uns einmal an.
Ich habe schon Ende Juli darüber berichtet, die Details finden Sie hier. Daher gebe ich hier nur eine kurze Zusam­men­fassung, bevor wir zu den aktu­ellen Mel­dungen kommen.
Der Flücht­lingsdeal von Merkel umfasste, ver­ein­facht gesagt, drei Punkte: Erstens: Die Türkei hält die Flücht­linge zurück. Dafür hat die EU Gegen­leis­tungen geboten. Zweitens: Die EU zahlt der Türkei für die Ver­sorgung der Flücht­linge Mil­li­arden, drittens: Die Türken dürfen ohne Visa in die EU einreisen.
Und der dritte Punkt macht Pro­bleme, die EU findet immer wieder Aus­reden, warum dieser Punkt auch nach Jahren nicht umge­setzt wurde, obwohl er unmit­telbar nach in Kraft treten des Abkommens ver­wirk­licht werden sollte. Man kann also ganz objektiv fest­halten, dass die EU ihren Teil des Ver­trages nicht einhält.
Hinzu kommt, dass die Türkei nun vor Zypern Gas fördern will, was der EU gar nicht passt und zu den ohnehin akuten Span­nungen zwi­schen Ankara und Brüssel kommt dieses Thema nun hinzu, denn die EU dis­ku­tiert des­wegen Sank­tionen gegen die Türkei. Und das will Erdogan sich nicht gefallen lassen, weshalb in den letzten Wochen wichtige tür­kische Minister den Flücht­lingsdeal in Frage stellen und offen­sichtlich bereits Vor­be­rei­tungen in der Türkei laufen, die Schleusen für Flücht­linge Richtung EU wieder zu öffnen.
Inter­es­san­ter­weise gab es darüber kaum Berichte in den euro­päi­schen und deutsche Medien. Man befürchtet offen­sichtlich eine weitere Stärkung rechter Strö­mungen und der EU-Kri­tiker, wenn diese Dinge bekannt werden. Nur werden sie sich nicht mehr ver­heim­lichen lassen, wenn wieder hun­dert­tau­sende Flücht­linge an Grie­chen­lands Stränden auftauchen.
Medien und Politik haben daher zwei Mög­lich­keiten: Ent­weder sie ver­schweigen alles und tun – wie schon 2015 – ganz über­rascht, wenn es losgeht. Oder sie stimmen die Men­schen darauf ein, indem sie die Türkei für die kom­mende Misere ver­ant­wortlich machen. Anscheinend wird es eine Mischung aus beidem. Inzwi­schen gibt es ver­einzelt Artikel über das Problem, aber dort wird die Türkei massiv kri­ti­siert und die Tat­sache, dass die EU den Flücht­lingsdeal nie ein­ge­halten, wird verschwiegen.
Ein Bei­spiel dafür fand ich heute im Spiegel und das wollen wir uns einmal näher ansehen. 
Wie der Spiegel von den eigent­lichen Pro­bleme ablenken will, zeigt schon die Über­schrift: „Abschie­bungen ins Kriegs­gebiet – Wie Erdogan den Flücht­lingsdeal tor­pe­diert„. Auch hier ist wieder inter­essant, wie sich die Über­schrift nach der Ver­öf­fent­li­chung ver­ändert hat. Das beob­achte ich oft: Der Redaktion im Spiegel ist eine Über­schrift nicht deutlich genug, dann wird sie in die gewünschte Richtung ver­ändert. In diesem Fall begann sie zunächst mit den Worten „EU-Türkei-Abkommen“ wo jetzt „Abschie­bungen ins Kriegs­gebiet“ steht. Das kann man erkennen, wenn man sich die Adresse des Links anschaut, in dem die ursprüng­liche Über­schrift zu sehen ist.
Der Spiegel will also mit aller Macht Erdogan ver­teufeln, der bedau­erns­werte Flücht­linge in Kriegs­ge­biete abschiebt, anstatt den Flücht­lingsdeal zu the­ma­ti­sieren. Der Spiegel lenkt also bewusst vom eigent­lichen Problem ab. 
In welche Richtung der Artikel dann geht, zeigt schon die Einleitung:
„Die EU zahlt der Türkei Geld, damit sich das Land um die Unter­bringung von Flücht­lingen kümmert. Nun soll die Erdogan-Regierung Syrer ins Kriegs­gebiet abge­schoben haben. Kippt der EU-Türkei-Deal?“
Kein Wort über die Visa­freiheit für die Türken, die Teil des Deals war. Dafür ver­logene Besorgnis über nach Syrien abge­schobene Flüchtlinge.
Warum sage ich „ver­logene Besorgnis“?
Als die EU den Deal geschlossen hat, gab es fol­gende Dis­kus­sionen in Deutschland: Man dürfe keine Mauern und Grenzen innerhalb der EU errichten, Mauern und Grenzen seien pfui! Und auch die EU dürfe sich nicht „ein­mauern“, Mauer seien ja pfui! Und ertrinken lassen darf man erst recht nie­manden. Also war die Lösung, dass die Türkei sich um die Flücht­linge kümmert, damit konnte die EU ihr reines Gewissen bewahren und musste keine Mauern bauen. Mauern sind ja pfui, wie wir damals gelernt haben.
Das war ver­logen, wie jeder Inter­es­sierte schon damals wusste, denn die EU hat der Türkei Geld gegeben und die hat dann eine Mauer an der syri­schen Grenze gebaut, nur steht das in den deut­schen Medien nur ganz nebenbei. So auch heute im Spiegel, wo das nur am Ende des Artikels kurz erwähnt wird und über Erdogan geschrieben wird, er
„hat an der Grenze zu Syrien eine Mauer gebaut.“
Die im Unter­be­wusstsein der Leser in Gang gesetzte Kau­sal­kette funk­tio­niert so: Mauern sind pfui, Erdogan hat eine Mauer gebaut, also ist Erdogan auch pfui.
Dabei war der Mau­erbau der Türkei bekannt, als der Deal geschlossen wurde, nur so konnte der Flücht­lings­strom in die Türkei ein­ge­dämmt werden und die EU hatte damit nie ein Problem.
Während sich die EU-Poli­tiker also damals als Moral­apostel auf­spielten und gegen Mauern und Grenzen waren, war schon damals bekannt, dass die Türkei eine Mauer an der Grenze zu Syrien baut und Kriegs­flücht­linge, die tat­sächlich nach inter­na­tio­nalem Recht hilfs­be­dürftig sind, nach Syrien in den Krieg zurück­schickt. Nur hat das in den letzten Jahren nie­manden gestört, das Thema war bekannt, wurde aber unter den Teppich gekehrt.
Nun aber wird das als „Auf­reger“ in die Schlag­zeilen geholt, um der Türkei den Schwarzen Peter zuzu­schieben und von dem Ver­trags­bruch der EU abzulenken.
Und so geht es in den ersten Absätzen des Artikels auch erst einmal in bekannter Manier um tra­gische Ein­zel­schicksale bedau­erns­werter Flücht­linge, um beim Leser Mit­gefühl die tat­sächlich bedau­erns­werten Men­schen zu wecken und das dann in eine Wut gegen Erdogan zu kana­li­sieren, der so grausam mit den Men­schen umgeht. Dass das nichts Neues ist, sondern im Grunde Inhalt des Flücht­lings­deals, wird nicht erwähnt. Wie soll die Türkei denn Men­schen zurück­halten, die in die EU wollen, wenn nicht mit Gewalt und der Polizei? Und wozu wurde denn die Mauer gebaut, wenn nicht zu dem Zweck, die Flücht­linge nicht mehr in die Türkei zu lassen?
Das sind alles Dinge, die seit Jahren so ablaufen, aber nun werden sie in die Schlag­zeilen geholt, um von dem Ver­sagen der EU abzulenken.
Über den Flücht­lingsdeal selbst steht in dem Artikel nur ein kurzer Absatz:
„Prä­sident Recep Tayyip Erdogan bekam von den Euro­päern 2016 unter anderem Finanz­hilfen ver­sprochen, wenn er im Gegenzug Flücht­linge von Europa fernhält. Migranten sollten zudem im Schnell­ver­fahren von grie­chi­schen Inseln in die Türkei zurück­ge­schickt werden.“
Kein Wort über die Visa­freiheit für Türken. Statt­dessen im nächsten Absatz wieder ein Angriff auf das Vor­gehen der Türkei:
„Der Deal beruht auf der Annahme, dass die Türkei ein sicheres Drittland ist. Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen haben das von Beginn an ver­neint. „Es gibt Kri­terien, die sichere Her­kunfts­staaten erfüllen müssen, die Türkei erfüllt sie nicht“, sagte Karl Kopp von Pro Asyl. Nun mehren sich die Bedenken.“
Dass die EU ihren Teil des Abkommens nun umsetzt und die ver­spro­chene Visa­freiheit ein­führen wird, ist nicht zu erwarten. Statt­dessen wird in Brüssel über Sank­tionen gegen die Türkei im Zusam­menhang mit der Gas­för­derung vor Zypern dis­ku­tiert, daher deutet alles auf ein bal­diges Ende des Flücht­lings­deals hin. Nur finden sich diese Zusam­men­hänge nicht im Spiegel. In diesem Artikel wird weder die Visa­freiheit für Türken, noch der Streit um das Gas vor Zypern auch nur mit einem Wort erwähnt. Der Leser wird für dumm ver­kauft, indem man ihm die wahren Zusam­men­hänge verschweigt.
Wer den Artikel liest, bekommt dann den Ein­druck, als sollten die Men­schen in Deutschland langsam auf ein Ende des Flücht­lings­deals ein­ge­stimmt werden und man scheint es so hin­stellen zu wollen, dass die EU von dem Deal aus „huma­ni­tären Gründen“ zurück­tritt und dann muss die EU eben die bedau­erns­werten Men­schen auf­nehmen, die jetzt in der Türkei sind.
Worum es dabei geht, steht nur teil­weise im Spiegel:
„Die Türkei hat rund 3,6 Mil­lionen Syrer auf­ge­nommen, mehr als jedes andere Land.“
Was der Spiegel in diesem Zusam­menhang ver­schweigt, ist der Iran. Dorthin sind noch einmal einige Mil­lionen Afghanen geflohen. Durch die Iran-Krise, die die EU eben­falls durch Ver­trags­bruch mit ver­ur­sacht hat, steigt im Land die Armut und damit der Wusch der afgha­ni­schen Flücht­linge, sich über die Türkei in Richtung Europa auf den Weg zu machen.
Und sollte es zu einem Krieg am Golf kommen, dann reden wir über ganz andere Flücht­lings­zahlen, die aus dem Iran kommen werden. Syrien hatte nur ca. 20 Mil­lionen Ein­wohner, der Iran hat 80 Mil­lionen, das würde nochmal eine ganz andere Haus­nummer werden, als das, was wir 2015 erlebt haben.
Und Erdogan wird die kaum im Land halten wollen. Um das Problem für die Türkei so gering wie möglich zu halten, könnte er sie an seiner Ost­grenze in Busse setzen und direkt an die Grenzen der EU fahren. Das ist jetzt meine Spe­ku­lation, dazu gibt es keine Mel­dungen, aber es wäre eine fol­ge­richtige Reaktion.
 

Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“