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Vera Lengsfeld: Mau­erfall — Die Geschichte wird umgeschrieben

Die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht, ist mein Lieb­lings­bonmot des pol­ni­schen Sati­rikers Sta­nisław Jerzy Lec, das ein Dilemma auf den Punkt bringt. Geschichte wird immer wieder umge­schrieben, so wie es den jewei­ligen Inhabern der Deu­tungs­hoheit gefällt. Wir erleben gerade in diesen Tagen wieder eine Umin­ter­pre­tierung der Fried­lichen Revo­lution von 1989/1990. Im Fokus der Neu­in­ter­pre­tation steht die Behauptung, es hätte sich nicht um ein aus der Oppo­sition gegen die kom­mu­nis­ti­schen Dik­ta­turen heraus ent­wi­ckeltes Mas­sen­er­eignis gehandelt, ein mas­sen­hafter Entzug der Legi­ti­mierung der Macht durch Auf­kün­digung ihrer stillen Duldung der Völker. Jetzt soll alles nach Drehbuch gegangen sein, je nach Stand­punkt des Betrachters, der Ame­ri­kaner oder der Sowjets. Der früh­zeitige Versuch der PDS unter dem Par­tei­vorsitz von Gregor Gysi, die SED zum eigent­lichen Akti­visten der Wende, wie die Fried­liche Revo­lution von Krenz genannt wurde, zu machen, schei­terte zwar, aber die Wen­de­er­finder wittern jetzt wieder Mor­genluft und hoffen, dass es diesmal klappt.

Warum die hek­ti­schen Uminterpretierungen?

Damals brach im Schick­salsjahr 1989 nicht nur die Ber­liner Mauer, sondern plötzlich und uner­wartet ein bis an die Zähne atomar bewaff­netes System zusammen. Jeder, der im Kalten Krieg auf­ge­wachsen ist, lebte mit der Annahme, dass die Block­kon­fron­tation zwi­schen sozia­lis­ti­schen und den freien Ländern der west­lichen Welt zu seinen Leb­zeiten anhalten würde. Auf dem Höhe­punkt des kalten Krieges wurden Atom­ra­keten entlang der inner­deut­schen Grenze sta­tio­niert und damit Deutschland zum Aus­tra­gungsort eines für wahr­scheinlich gehal­tenen Atom­krieges. Noch am Morgen des 9. November gab es kaum jemanden, der meinte, am Abend würde die Mauer fallen. Dann kam alles ganz anders. In diesen Tagen werden immer wieder die Auf­nahmen von der his­to­ri­schen Pres­se­kon­ferenz mit Günter Schab­owski gezeigt, der auf die Frage eines Jour­na­listen, wann denn das neue Rei­se­gesetz, das nunmehr jedem DDR-Bürger erlauben würde, einen Pass zu bean­tragen und legal über jede Grenz­über­gangs­stelle die DDR in Richtung Westen zu ver­lassen, in Kraft trete, ins Stottern geriet. Als Polit­bü­rokrat war er die Beant­wortung spon­taner Fragen nicht gewöhnt. Noch weniger war vor­stellbar, dass auf Schab­owskis gestam­meltes „unver­züglich“ sich zehn­tau­sende Men­schen von ihren Sesseln und Sofas erheben und zum nächsten Grenz­übergang Richtung Westen gehen würden. Ich war damals in der Born­holmer Straße dabei, als sich an der Böse­brücke vor dem Schlagbaum tau­sende Men­schen ver­sammelt hatten, die schließlich als erste den Schlagbaum anhoben und über die Brücke in Richtung Westen strömten. Kurz darauf geschah an dut­zenden Schlag­bäumen das­selbe. Dieser spontane Mas­sen­auf­bruch soll nach Drehbuch erfolgt sein, die tau­senden Men­schen, die sich darauf besannen, dass sie eine Stimme hatten, die sie ein­setzen konnten, sollen nur wieder Figuren eines Macht­spiels gewesen sein?

Nein, der Mau­erfall war keine Insze­nierung von wem auch immer, sondern er geschah auf Druck der Bevöl­kerung, die beschlossen hatte, sich nicht länger ein­mauern zu lassen. Es folgte eine drei­tägige gesamt­deutsche Party.

Für einen welt­ge­schicht­lichen Augen­blick waren wir, wie der damalige Regie­rende Bür­ger­meister Walter Momper es aus­drückte, das glück­lichste Volk der Erde, damals durfte ein Sozi­al­de­mokrat noch Volk sagen, ohne sofort als Nazi gebrand­markt zu werden. Nicht nur das: Uns flogen weltweit die Sym­pa­thien zu. Wir wurden auch zum belieb­testen Volk der Erde.

Was dem Mau­erfall folgte, war ebenso wenig geplant. Wenn es nach den Wün­schen der SED und dem größten Teil der Bür­ger­rechts­be­wegung gegangen wäre, sollte die DDR fort­be­stehen. Das war aber nicht, was die über­wie­gende Mehrheit der Bevöl­kerung wollte. Nach dem Mau­erfall waren viermal mehr Men­schen auf der Straße, als in den zwei Monaten zuvor, seit Beginn der Mon­tags­de­mons­tra­tionen. Die For­derung war ein­deutig: Ver­ei­nigung ohne Wenn und Aber. Der erste Poli­tiker, der das erkannte und dass ist sein blei­bendes Ver­dienst, war Bun­des­kanzler Helmut Kohl, der auf dem kleinen Par­teitag der CDU in West­berlin im Dezember 1989 sagte, dass die Politik im Augen­blick auf der Straße gemacht würde und die Poli­tiker die Aufgabe hätten, hin­zu­hören, was die Men­schen wollten. Kohl tat es und wurde mit Mut und Geschick zum Kanzler der deut­schen Einheit. Verlief dieser Eini­gungs­prozess nach Drehbuch? Nur, wenn man davon ausgeht, dass dieses Drehbuch von den Demons­tranten dik­tiert wurde. Der Wille der Bevöl­kerung erwies sich als stärker, als alle Ver­ei­ni­gungs­gegner in Politik und Medien zusammengenommen.

Nicht nur die SED-Macht­haber waren gegen die Ver­ei­nigung, auch der größte Teil, vor allem, aber nicht nur der linken Poli­tiker und Medien. Noch im Frühjahr 1989 sollte auf dem Bremer Par­teitag der CDU auf Antrag des dama­ligen Gene­ral­se­kretärs Heiner Geißler das Ver­ei­ni­gungs­gebot aus dem Pro­gramm der CDU gestrichen werden. Diesen Antrag brachte die Par­tei­basis zu Fall, die damals noch die Kraft zum Wider­spruch gegen Fehl­ent­schei­dungen der Par­tei­führung aufbrachte.

Bild ließ noch im Früh­sommer 1989 die Anfüh­rungs­striche bei der Nennung der DDR fallen. Man wollte den zweiten deut­schen Staat endlich die ihm gebüh­rende Aner­kennung zollen. Von einem bevor­ste­henden Zusam­men­bruch der DDR, gar von einem Drehbuch dafür, scheinen die CDU-Führung und Bild nur wenige Wochen vorher nichts geahnt zu haben.

Noch weniger geahnt haben alle Spe­zia­listen im Westen, dass dem Mau­erfall der Zusam­men­bruch des Sowjet­im­pe­riums folgen würde. Erst ergriff die Revo­lution alle Satel­li­ten­staaten, dann folgten die Länder, die der Sowjet­union ein­ver­leibt worden waren. Erst erklärten die Bal­ti­schen Staaten ihre Unab­hän­gigkeit, dann die mit­tel­asia­ti­schen Länder. Aus Sowjet­men­schen wurden über Nacht wieder Usbeken, Kasachen, Kir­gisen, Georgier, Letten, Litauer, Esten, mit einer eigenen Iden­tität und wie­der­erwachtem Selbst­be­wusstsein. Ein Drehbuch für die Auf­lösung der Sowjet­union gab es bestimmt nicht, davon zeugen schon die Ver­suche, den Prozess der Unab­hän­gig­werdung wie in Tiblisi oder Vilnius mit Waf­fen­gewalt zu unter­binden. Nein, die Völker haben ein Joch abge­schüttelt, das sie eli­mi­nieren sollte. Wie wenig die­je­nigen, die sich selbst als Eliten betrachten, aus der Geschichte lernen, zeigt ihr Bestreben, aus Europa einen Zen­tral­staat zu machen und die Natio­na­li­täten ein­zu­ebnen. Diese Pläne werden ebenso scheitern, wie die sowje­ti­schen gescheitert sind. Wir dürfen hoffen, dass dies nicht 70 Jahre dauern wird.

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Aber der Schock über das Ver­schwinden einer ganzen poli­ti­schen Klasse über Nacht, steckt den Macht­habern noch heute in den Knochen. Wir erleben seit den 2000er Jahren einen sich beschleu­ni­genden Abbau demo­kra­ti­scher Errun­gen­schaften und Insti­tu­tionen, nicht nur in Deutschland, auch wenn das deutsche Politik- und Medi­en­kartell sich an die Spitze dieser Bewegung gesetzt hat. Es ist immer unge­müt­licher geworden in Deutschland, wenn seine Eliten meinten, ein Vorbild für die Welt sein zu wollen. Der letzte Versuch, die Welt am deut­schen Wesen genesen zu lassen, hat bekanntlich in die Kata­strophe geführt. Nicht mehr Recht und Gesetz sind die höchsten Instanzen, sondern eine Hyper­moral, die beängs­tigend ist. Um einer höheren Moral willen wird regel­recht die Außer­kraft­setzung von Gesetz und Ver­ordnung gefeiert oder gefordert. So war es bei Merkels Grenz­öffnung im Sep­tember 2015 im Großen, so ist es für einen Regio­nal­bus­fahrer im Kleinen, wenn er sich an die Vor­schriften hält und nur zwei Kin­der­wagen in seinem Bus mit­nimmt, wenn doch drei an der Hal­te­stelle stehen.

Die Demons­tranten von 1989 sind für die bür­ger­lichen Frei­heiten auf die Straße gegangen. Sie haben den Rechts­staat bekommen, der diese Frei­heiten garan­tieren soll. Wir haben heute die drin­gende Aufgabe, den Rechts­staat vor seiner Opferung auf dem Altar der Hyper­moral zu bewahren. Wir müssen seine Erosion stoppen, damit wir die Freiheit, die wir uns erkämpft haben, bewahren. Das Kern­stück der Freiheit ist die Mei­nungs­freiheit. Die läuft heute wieder Gefahr, nur noch in der Ver­fassung zu stehen, die immer mehr aus­ge­höhlt wird. Beim Kampf um die Mei­nungs­freiheit kann jeder mit­helfen, indem er sich nicht den Mund ver­bieten lässt. Im Grunde sind die Mäch­tigen nackt, wie der Kaiser im Märchen, wenn es genügend Wider­spruch gibt, wenn sie in ihren fal­schen Kleidern paradieren.

Aber ich will positiv enden. 1989 hat gezeigt, dass, wenn nur genügend Men­schen sich darauf besinnen, eine Stimme zu besitzen und sie zu erheben, auch die starrsten Ver­hält­nisse zum Ein­sturz gebracht werden können. Das ist die Bot­schaft der Fried­lichen Revo­lution 1989.

Im Jahr 1989, aus­ge­rechnet dem Jahr des hun­dertsten Geburtstags des größten deut­schen Dik­tators haben die Ost­deut­schen eine erfolg­reiche bür­ger­liche Revo­lution voll­bracht. Wir müssen diese Revo­lution vor allen Bestre­bungen, sie weg­zu­in­ter­pre­tieren und ihre Erfolge zu eli­mi­nieren, ver­tei­digen. Das ist unsere Aufgabe. Wenn wir Mut fassen, wie die Revo­lu­tionäre von 1989, werden wir sie meistern.