Bild: Flag of South Tyrol.svg, Attribution 3.0 Unported (CC BY 3.0), https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/, F l a n k e r - Own work

Süd­tirol als Modell für die Ost-Ukraine?

Phan­tas­ma­gorien an Tiber und Etsch über die „Volks­re­pu­bliken“ Donezk und Lugansk

In dem seit 2014 schwe­lenden Kon­flikt zwi­schen der Ukraine und Russland über das Donbass-Gebiet in der Ost-Ukraine hat ein Mos­kauer Diplomat unlängst einen Son­der­status für die dort domi­nanten eth­ni­schen Russen ins Spiel gebracht. So sagte Alek­sandr Alek­se­je­witsch Аwdejew (Александр Алексеевич Авдеев), der rus­sische Bot­schafter beim Hei­ligen Stuhl, in einem Interview mit  der Zeitung „Il Mess­aggero“, man könne sich „am Umgang Ita­liens mit Süd­tirol ori­en­tieren“.  In Italien habe es „in den 1950er Jahren große Span­nungen im Norden gegeben, wo die deutsche Min­derheit eine voll­ständige kul­tu­relle Auto­nomie for­derte.“ Italien habe „eine faire und aus­ge­wogene Kom­pro­miss­lösung gefunden, und diese Erfahrung könnte auch für Kiew bei der Lösung der Pro­bleme im Donbass nützlich sein.“

Alek­sandr A. Аwdejew (Foto: CC BY-SA 4.0 )

Dass der Hinweis auf den von ihm als „kul­tu­relle Auto­nomie“ apo­stro­phierten Status Süd­tirols just von Abdejew kommt hat zum einen mit seiner Her­kunft aus  Kre­ment­schug am Dnjepr im zen­tralukrai­ni­schen Ver­wal­tungs­bezirk Poltawa, zum andern mit seiner frü­heren Funktion als Kul­tur­mi­nister der Russ­län­di­schen Föde­ration zu tun. Vor allem aber ist er Teil einer gezielten Stra­tegie: Moskau ver­sucht, das überaus zugäng­liche Italien nicht zum ersten Mal für seine Ziele dienstbar zu machen. Rom hatte sich nämlich nicht nur bald nach Ver­hängung der wegen der völ­ker­rechts­wid­rigen Krim-Annexion von der EU wider Russland ver­hängten Sank­tionen unter Berufung auf das tra­di­tionell freund­schaft­liche ita­lie­nisch-rus­sische Ver­hältnis davon los­gesagt. Sein dama­liger Kurzzeit-Regie­rungschef Matteo Renzi und dessen Außen­mi­nister Paolo Gen­tiloni, der ihm dann nach­folgte (und heute der EU-Kom­mission angehört), hatten anlässlich von Besuchen in Moskau im Gefolge der ost­ukrai­ni­schen Wirren, bei denen Moskau Regie führte und zufolge derer die sepa­ra­tis­ti­schen „Volks­re­pu­bliken“ Donezk und Lugansk  aus­ge­rufen worden waren, überdies als „ita­lie­ni­schen Modellfall“ die „Lösung des Süd­tirol-Kon­flikts“ zur all­fäl­ligen „Befriedung“ ange­priesen. Weshalb Abdejews ziel­ge­richtete Stoß­richtung zugleich dem Bemühen galt, Rom möge die EU zu einem Ukraine-Kurs­wechsel veranlassen.

Luis Durn­walder pflichtet bei

Dass der aus der Ukraine gebürtige rus­sische diplo­ma­tische Appa­rat­schik alter „sowje­ti­scher Schule“ beschö­nigend von einer „fairen und aus­ge­wo­genen Kom­pro­miss­lösung“ sprach, die Italien in Bezug auf Süd­tirol gefunden habe, mag man ent­schul­digend dessen in dieser spe­zi­ellen Frage min­derer his­to­risch-poli­ti­schen Kenntnis anheim­stellen. Dass aber aus­ge­rechnet der lang­jährige frühere Süd­ti­roler Lan­des­hauptmann Luis Dum­walder „diesen Ober­le­gungen nur bei­pflichten“ kann, wie die Tages­zeitung „Dolo­miten“ in ihrer Ausgabe vom 30. Dezember und auf der Plattform stol.it just unter Berufung auf Awdejews Ein­las­sungen ver­meldete, erstaunt dagegen umso mehr.

Karte Archiv RdV

Denn gerade Durn­walder weiß als unmit­tel­barer Ange­hö­riger der Erleb­nis­ge­ne­ration, dass Italien in der Süd­tirol-Frage von 1945 bis zur „Paket-Lösung“ 1969 respektive zum Auto­no­mie­statut von 1972 alles andere als „nach einer fairen und aus­ge­wo­genen Kom­pro­miss­lösung“ gesucht hatte. Zudem weiß er, welchen Behar­rungs­ver­mögens seines Vor­gängers Silvius Magnago es bedurfte, im Verein mit maß­geb­licher Unter­stützung Öster­reichs, ins­be­sondere durch Bruno Kreiskys Vorstoß in den Ver­einten Nationen (UN), sowie nicht zuletzt auch der von Ver­zweiflung ob der in ihrer Heimat obwal­tenden ita­lie­ni­schen Zwangs­herr­schaft bewirkten Aktionen selbst­loser BAS-Frei­heits­kämpfer, dass Rom über­haupt von seiner Unnach­gie­bigkeit und Ita­lianità-Sturheit abließ. Und hat schließlich  in Nach­folge Magnagos als Lan­des­hauptmann selbst genügend Erfahrung im Umgang mit  trick­reichen bis hin­ter­lis­tigen römi­schen Regie­rungen, mit Insti­tu­tionen der ita­lie­ni­schen Zen­tral­staats­gewalt sowie auch und vor allem deren stets die „eine, unge­teilte Nation“ sowie die gesamt­staat­liche „Aus­rich­tungs- und Koor­di­nie­rungs­be­fugnis“ (AKB) ver­ab­so­lu­tie­renden  Jus­tiz­in­stanzen gesammelt, um derart gefäl­ligen, aber zutiefst geschichts­wid­rigen  Beschö­ni­gungen, womit ja auch die römische Politik stets hau­sieren geht, ent­ge­gen­zu­treten anstatt sie quasi öffentlich zu gou­tieren. 

Rea­lis­ti­scher Blick auf die Südtirol-Autonomie

Wie steht es denn, rea­lis­tisch betrachtet, um die Süd­tirol-Auto­nomie? Quer durch alle ita­lie­ni­schen Par­la­ments­par­teien gibt es einen Konsens für mehr Zen­tra­lismus. Dagegen kann Süd­tirol nichts aus­richten, es ist  „zu klein und zu irrelevant“, so der Befund eines Ita­lieners, des frü­heren Senators Fran­cesco Palermo, der seinen Senatssitz dem dama­ligen Zusam­men­wirken von Süd­ti­roler Volks­partei (SVP) und Partito Demo­cratico (PD) im Wahl­kreis Süd­ti­roler Unterland ver­dankte. Überall dort, wo es trotz Auto­no­mie­be­stim­mungen recht­liche Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­räume gibt oder eine Frage vor dem Ver­fas­sungs­ge­richtshof aus­ge­fochten werden muss, machen sich die zen­tra­lis­tische Staats­ordnung und der Primat des natio­nalen Inter­esses bemerkbar. Von Anfang an, d.h. seit 1945, war die staat­liche ita­lie­nische Gesamt­ordnung zen­tra­lis­tisch, und selbst mit der auf mehr Föde­ra­lismus zie­lenden Ver­fas­sungs­reform von 2001 war es damit in jener vom ehe­ma­ligen Regie­rungschef Matteo Renzi 2014 ins Werk gesetzten vorbei, sodass der Zen­tral­staat die Auto­nomie Süd­tirols trotz jener von der SVP beschwo­renen Schutz­klausel weiter aus­höhlte und den Bozner Hand­lungs­spielraum erheblich ein­engte. Eine dyna­mische Ent­wicklung im Sinne jenes aus­ge­prägten Auto­no­mie­an­spruchs wie ihn die SVP seit der Streit­bei­le­gungs­er­klärung  gegenüber den UN 1992 vorgab und als Ziel die „Voll­au­to­nomie“ pro­pa­gierte, wurde damit unter­bunden; statt­dessen öffnete sich suk­zessiv die Schere zwi­schen römi­schem Zen­tra­lismus und der Selbst­ver­waltung der Auto­nomen Provinz Bozen-Süd­tirol und feierte während der mit Not­ver­ord­nungen ope­rie­renden Regie­rungszeit des Mario Monti fröh­liche Urständ.

Selbst­ver­ständlich  ist es einem ver­dienst­vollen Mann wie Durn­walder unbe­nommen, das „Süd­ti­roler Modell, so wie ich das sehe“ in Über­tragung auf „die beiden Teil­re­pu­bliken“ für „eine gute und außerdem rea­lis­tische Lösung“ zu halten, „die übrigens auch in Moskau Akzeptanz finden dürfte“, zitierten ihn die „Dolo­miten“. Zu wider­sprechen ist ihm jedoch hin­sichtlich der von ihm ver­wen­deten Begriff­lichkeit: Es handelt sich nämlich nicht um „Teil­re­pu­bliken“, vorerst auch nicht nach dem Ver­ständnis derer, die die „Volks­re­pu­bliken“ Donezk und Lugansk aus­riefen, denn sie sahen und sehen sich, wenn­gleich sie stets von Moskau unter­stützt wurden und mehr denn je werden, nicht als ter­ri­to­riale Glieder der Rus­si­schen Föde­ration, sondern als eigen­staat­liche Enti­täten mit ent­spre­chenden Insti­tu­tionen (Regie­rungen, Par­la­menten, Jus­tiz­ein­rich­tungen, Mili­tär­ver­bänden etc etc.), die aller­dings nur von Moskau aner­kannt sind. Grund­sätz­lichen Wider­spruch ver­dient indes Durn­walders eben­falls von den „Dolo­miten“ zitierte Aussage, wonach  „die Lage der rus­si­schen Min­derheit in der Ost-Ukraine durchaus mit jener der deutsch­spra­chigen Bevöl­kerung Süd­tirols nach Kriegsende ver­gleichbar“ sei. Dies selbst nur mit dem beliebten „Äpfel-mit-Birnen-Ver­gleich“ zu kon­ter­ka­rieren, wäre unge­nügend, weil das eine mit dem anderen wenig bis nichts zu tun hat und der Ver­gleich wenn viel­leicht nicht ganz falsch ist, so doch hinkt. 

Man­gelnde Kenntnis der his­to­risch-poli­ti­schen Gegebenheiten

Wie auch immer er zu dieser Ein­schätzung gelangt sein mochte, ob er sie während seiner umstrit­tenen Teil­nahme am „Inter­na­tio­nalen Forum ‚Donbass: Gestern, heute und morgen‘” im Mai 2015 in Donezk gewann, wohin er ein­ge­laden war,  die Süd­tirol-Auto­nomie zu erläutern, wes­wegen ihn die Ukraine (und mit ihm alle anderen west­lichen Kon­fe­renz­teil­nehmer) zur Persona non grata erklärte, ist nicht wirklich von Belang. Faktum ist indes, dass er damit nicht nur völlig dane­ben­liegt, sondern auch ein gerüttelt Maß poli­ti­scher Ignoranz und Unbe­lecktheit hin­sichtlich der eth­ni­schen, kul­tu­rellen, sprach­lichen, kon­fes­sio­nellen, kirch­lichen sowie staats- und völ­ker­recht­lichen Gege­ben­heiten der öst­lichen Ukraine offenbart. Vor allem zeigt Durn­walder, dass er von den geschicht­lichen Rah­men­be­din­gungen und his­to­ri­schen Ent­wick­lungs­linien der ukrai­ni­schen wie der rus­si­schen Staat­lichkeit im Rahmen der vor­ma­ligen Sowjet­union (1922–1991) sowie im Rahmen ihrer danach in freier Selbst­be­stimmung erlangten Sou­ve­rä­nität als von­ein­ander unab­hängige Staaten eben­so­wenig Kenntnis hat wie von  beider mit­unter ver­schränktem, meist aber abwei­chenden Geschichtsbild, was darüber hinaus für die von beiden in Anspruch genom­menen  Befunde über Nati­ons­bildung und Natio­nal­be­wusstsein gilt.

Durn­walder (2.von links) während einer Pres­se­kon­ferenz aus Anlass des „Inter­na­tio­nalen Forums ‚Donbass: Gestern, heute, morgen“ 2015 im ost­ukrai­ni­schen Donezk (Foto: ENRJMW www.alamy.com )

Eine wie auch immer geartete his­to­risch-poli­tische Par­al­le­lität zwi­schen deutsch-öster­rei­chi­schen Süd­ti­rolern und der eth­nisch-rus­si­schen Mehr­heits- bzw. ukrai­ni­schen Min­der­heits­be­völ­kerung der Ost‑, Südost- und Süd­ukraine zu sehen, geht sowohl für die Zeit nach dem Zweiten, als auch für die Zeit nach dem Ersten Welt­krieg  fehl; ganz zu schweigen von den in diesem Raum prä­senten Ange­hö­rigen anderer Natio­na­li­täten. Die Russen im soeben defi­nierten Raum, ins­be­sondere in der infrage ste­henden, vom Koh­le­bergbau geprägten Donbass-Region mit den beiden Gebiets­ver­wal­tungs­be­zirken (области/Oblasti) Donezk (ukrai­nisch: Донецька область/Donezka Oblast; rus­sisch: Донецкая область / Donezkaja Oblast) und Luhansk (ukrai­nisch: Луганська область/ Luhanska Oblast) bzw. Lugansk (rus­sisch: Луганская область / Luganskaja Oblast ), innerhalb derer sich die nur vom benach­barten Russland aner­kannten, ein­seitig aus­ge­ru­fenen soge­nannten Volks­re­pu­bliken Donezk — am 7. April 2014 als Донецкая народная республика / Donezkaja Narodnaja Respu­blika (DNR) aus­ge­rufen —  und Lugansk — am 27. April 2014 als Луганская народная республика / Luganskaja Narodnaja Respu­blika LNR aus­ge­rufen —  abspal­teten, waren  stets Mehrheit. 

Die nationale Frage vor und nach der Sowjetunion

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Die nationale Frage oder die Frage der eth­nisch-natio­na­li­tä­ten­po­li­ti­schen Zuge­hö­rigkeit stellte sich nach dem Ersten Welt­krieg mit dem Untergang der mos­ko­wi­tisch-impe­rialen Zaren-Auto­kratie allen­falls in der zeit­ge­schichtlich kurzen Phase einer west­ukrai­ni­schen Eigen­staat­lichkeit zwi­schen bol­sche­wis­ti­scher Okto­ber­re­vo­lution 1917, dem sich anschlie­ßenden Bür­ger­krieg und dem Sieg der Bol­schewiki des Wla­dimir Iljitsch Uljanow (bekannt als Lenin) mit dar­auf­fol­gender Gründung der Sowjet­union 1922 (amt­liche Form UdSSR / CCCP; Union der Sozia­lis­ti­schen Sowjet­re­pu­bliken / Союз Советских Социалистических Республик / Sojus Sowjet­skich Sozia­lis­tit­sche­skich Res­publik), der die Ende 1918 aus­ge­rufene Ukrai­nische Sozia­lis­tische Sowjet­re­publik (UkrSSR/ УССP;  Украинская Советская Социалистическая Республика / Ukraїnskaja Sozia­lis­tit­sche­skaja Res­pu­blika) beitrat, in der Ost-Ukraine dagegen über­haupt nicht. Hierbei ist – ins­be­sondere wegen des fun­da­men­talen Unter­schieds zur Ent­wicklung nach dem Ersten Welt­krieg – die „Urka­ta­strophe des 20. Jahr­hun­derts“ (George F. Kennan) – darauf hin­zu­weisen, dass in der Ukraine als einer poli­tisch-ter­ri­to­rialen For­mation, welche aus dem infolge der Okto­ber­re­vo­lution 1917 unter­ge­gan­genen zaris­ti­schen Russland im Ent­stehen begriffen war und schließlich 1922 durch den Sieg der Bol­schwiki Glied der Sowjet­union war, eben nicht ein der­ar­tiger Kon­flikt ent­stehen konnte, wie ihn die Annexion des süd­lichen Tirol 1918 durch und dessen völ­ker­recht­liche Über­eignung an Italien 1919 durch das „Frie­dens­diktat“ von St. Germain-en-laye hervorrief.

Auch nach dem Sieg im von Dik­tator Gene­ra­lis­simus Stalin (eigentlich Iossif Wis­sa­ri­o­no­witsch Dschu­g­aschwili) so genannten „Großen Vater­län­di­schen Krieg“ 1945 änderte sich daran in der Ukraine nichts, ganz gleich ob es sich um die West‑, um die Zentral- oder um die Ost-Ukraine han­delte. Denn die Natio­na­li­tä­ten­frage im tota­li­tären Macht­gefüge der ideo­lo­gisch dem Inter­na­tio­na­lismus hul­di­genden Ein­par­tei­herr­schaft der KPdSU im Zentrum Moskau war formell nicht existent und wenn über­haupt, dann konnte sie sich allen­falls im vom Geheim­dienst KGB nie­der­ge­hal­tenen Samisdat-Unter­grund spärlich regen. Was man zudem für diese Periode eben­falls nicht aus den Augen ver­lieren sollte ist ein nahezu als delikat zu bezeich­nender Umstand, nämlich dass so gut wie alle füh­renden aus der UkrSSR/YCCP in die beiden zen­tralen Macht­gremien der allein bestim­menden KPdSU ent­sandten Mit­glieder von Zen­tral­ko­mitee (ZK) und Politbüro (PB) eth­nische Russen waren. (Ich nenne hier aus­drücklich die ein­fluss­reichtsten, wie Wjat­scheslaw Michaj­lo­witsch Molotow/ Вячеслав Михайлович Молотов; Lazar Mois­se­je­witsch Kaga­no­witsch / Лазарь Моисеевич Каганович; Nikita Ser­ge­je­witsch Chruscht­schow (Никита Сергеевич Хрущёв); Nikolaj Wik­to­ro­witsch Pod­gornyj (Николай Викторович Подгорный); Wla­dimir Anto­no­witsch Iwaschko / Владимир Антонович Ивашко. Zu den wenigen Aus­nahmen gehören Wolo­dymyr Was­syl­jo­wytsch Scht­scher­byzkyj /  Володимир Васильович Щербицький und Petro Schelest / Петро Шелест.) 

Rus­sische Minderheiten

Erst mit dem Sys­tem­kollaps, dem Zusam­men­bruch der kom­mu­nis­ti­schen Herr­schaft  und der Auf­lösung der Sowjet­union 1991/1992 kam zum Vor­schein und regte sich, was während der sieben Jahr­zehnte, in denen es zur pro­pa­gierten Partei- und Staats­a­doktrin gehörte, den von natio­nalen Regungen los­gelöst-ent­frem­deten, inter­na­tio­na­lis­tisch den­kenden und han­delnden „Sowjet­men­schen“ zu schaffen, das Bewusstsein vom Natio­nalen über­lagert hatte. Mit der Sou­ve­rä­ni­täts­er­klärung der aus der Sowjet­union her­vor­ge­gan­genen Natio­nal­staaten rückten all­mählich auch nationale Min­der­heiten und Volks­gruppen in den Blick. Wobei es nun überall dort, wo während der Phase der Zuge­hö­rigkeit zur Sowjet­union auf­grund polit­scher, öko­no­mi­scher und sozialer „Ver­ge­mein­schaftung“ unter Mos­kauer Supre­matie ver­mehrt eth­nische Russen hin­kamen und meist auch die füh­rende Schicht bil­deten, diese sich nach den jewei­ligen Sou­ve­rä­ni­täts­er­klä­rungen respektive Referenden/Volksabstimmungen als Min­der­heiten wie­der­fanden. So in den bal­ti­schen Repu­bliken Estland (Volks­ab­stimmung 3. März 1991; rus­sische Min­derheit 25,5 Prozent), Lettland (Unab­hän­gig­keits­er­klärung 4. Mai 1990; rus­sische Min­derheit 27 Prozent) und Litauen (11. März 1990; Russen 5,8 Prozent). So auch in den zen­tral­asia­ti­schen Ländern Kasachstan (16. Dezember 1991; Russen 24 Prozent), Turk­menien (27. Oktober 1991; Russen 7 Prozent), Kir­gisien  (31. August 1991; Russen 12,5 Prozent), Usbe­kistan (1. Sep­tember 1991; Russen 5,1 Prozent), Tadschi­kistan (9. Sep­tember 1991; Russen 0,5 Prozent) und Aser­bai­dschan (18. Oktober 1991; Russen 1,3 Prozent), sodann Armenien (23. August 1990; Russen 0,09 Prozent), Georgien (9. April 1991; Russen 1,5 Prozent), Moldova (27. August 1991; Russen 4,1 im Lan­desteil westlich des Dnjestr sowie 30,3 Prozent im öst­lichen Lan­desteil, dem 1992 abge­spal­tenen Trans­nis­trien) , Weiß­russland / Belarus (25. August 1991; Russen 8,3 Prozent) und schließlich die Ukraine (24. August 1991; Russen 22,1 Prozent).

Ent­ge­gen­ste­hende Fakten

Ent­scheidend für die im Mit­tel­punkt ste­hende Aus­ein­an­der­setzung mit der These des frü­heren Süd­ti­roler Lan­des­haupt­manns, wonach die Situation im Donbass jener in Süd­tirol ähnele, sind Fakten und Umstände, welche seiner Betrachtung ent­ge­gen­stehen. Man mag seine These  gelten lassen, dass in den  “Volks­re­pu­bliken” Donezk und Luhansk (rus­sisch Lugansk) „die Zusam­men­setzung der Volks­gruppen mit jener Süd­tirols ver­gleichbar“ sei: „Zwei Drittel Russen und ein Drittel Ukrainer” führt er an und sieht dies als Par­allele zu  zwei Drittel Deutsch­süd­ti­rolern und einem Drittel Ita­lienern. Nur bleibt dabei etwas Fun­da­men­tales außen vor: Im Gegensatz zu den mittels Frie­dens­diktats von 1919  zu Staats­bürgern Ita­liens erzwun­genen Deutsch­süd­ti­rolern, denen auch nach dem Zweiten Welt­krieg die Selbst­be­stimmung ver­weigert wurde, haben die Ukrainer jed­weder  eth­ni­schen Iden­tität bzw. Volks- respektive Min­der­hei­ten­zu­ge­hö­rigkeit sich am 1. Dezember 1991 bei einer Wahl­be­tei­ligung von 84 Prozent zu 92,3 Prozent  für die Unab­hän­gigkeit  in einem völ­ker­rechtlich unan­fecht­baren selbst­be­stimmten Refe­rendum für die Sou­ve­rä­nität der Ukraine und damit für die ukrai­nische Staats­bür­ger­schaft ent­schieden: Ukrainer (Bevöl­ke­rungs­anteil 72,7 Prozent),  Weiß­russen (0,9 Prozent), Rumänen/Moldawier (0,9 Prozent), (Krim-) Tataren (0,7 Prozent), Bul­garen (0,5 Prozent); Ungarn und Polen (jeweils 0,4 Prozent), Armenier und Griechen (jeweils 0,2 Prozent), Zigeuner, Juden, Aseris/Aserbaidschaner, Gag­ausen und Deutsche (jeweils 0,1 Prozent). Aus­drücklich sei ver­merkt, dass sich auch 55 Prozent aller eth­ni­schen Russen (mit einem Bevöl­ke­rungs­anteil von 22,1 Prozent größte Min­derheit des Landes), somit mehr­heitlich für die Eigen­staat­lichkeit der Ukraine ent­schieden und damit – nicht nur nebenbei bemerkt – den Wunsch des Prä­si­denten Boris Niko­la­je­witsch Jelzin (Борис Николаевич Ельцин), des ersten aus freien demo­kra­ti­schen Wahlen her­vor­ge­gan­genen Staats­ober­haupts Russ­lands, uner­füllt bleiben ließ, nämlich dass die Ukraine Bestandteil Russ­lands, fortan in Form einer Föde­ration, bleiben sollte; dies wusste der selbst­be­wusste damalige unkrai­nische Prä­sident Leonid Maka­rowitsch Krawtschuk (Леонид Макарович Кравчук ) zu unter­laufen. 

Aus der „Kiewer Rus“ fol­gende Geschichtsbilder

Die Ukraine oder besser jene geschichtlich rele­vanten Vor­läufer-For­ma­tionen, die für das heutige  ukrai­nische wie für das rus­sische Ter­ri­torium kon­sti­tutiv gewesen sind, waren beim „Ein­tritt Russ­lands in die Geschichte“ mit der „Kiewer Rus/ Киевская Русь“ Teil jenes im 9. Jahr­hundert sich her­aus­bil­denden und im 11. Jahr­hundert wieder zer­fal­lenen mit­tel­al­ter­lichen altost­sla­wi­schen Groß­reichs, das als Vor­läufer der heu­tigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus/Weißrussland gilt. Vom der Bezeichnung  „Rus“ (Volk)  leiten sich übrigens die Eth­nonyme der Russen und Weiß­russen ab, ebenso die Namen Rusynen, Ruthenen und Klein­russen,  mit denen die Ukrainer über mehrere Jahr­hun­derte vor allem während ihrer Zuge­hö­rigkeit zu Polen-Litauen und zu Öster­reich-Ungarn bezeichnet wurden.

Wir dürfen in diesem Zusam­menhang Wla­dimir Wla­di­mi­ro­witsch Putins unlängst ver­mittels eines von ihm ver­öf­fent­lichten Auf­satzes mit dem Titel „Über die his­to­rische Einheit der Russen und Ukrainer” offen­bartes Geschichtsbild nicht, wie es in der west­lichen Publi­zistik durchweg geschieht, kur­zerhand als sta­li­nis­tisch unter­füt­terte Marotte des eins­tigen KGB-Oberst­leut­nants mit Resi­dentur Dresden auf dem Stuhl des rus­si­schen Prä­si­denten  sehen. Auch nicht einfach als die vom „unbe­re­chen­baren Zaren“ (© Wiktor Wla­di­mi­ro­witsch Jero­fejew / Виктор Владимирович Ерофеев; rus­si­scher Schrift­steller) ver­ordnete Geschichts­po­litik abtun. Sondern wir sollten darin sehen und akzep­tieren, dass es sich um Putins Rück­griff  auf die Kon­ti­nuität tra­di­tio­neller rus­si­scher Geschichts­phi­lo­sophie und His­to­rio­graphie handelt, wie wir sie als Ost­europa-His­to­riker seit dem 18. Jahr­hundert kennen und wie sie sich in Namen berühmter rus­si­scher His­to­riker wie bei­spiels­weise Nikolaj Michai­lo­witsch Karamsin (Николай Михайлович Карамзин; 1766–1826), Sergej Michai­lo­witsch Solowjow (Сергей Михайлович Соловьёв; 1820–1879), Was­silij Osi­po­witsch Kljut­schewski (rus­sisch Василий Осипович Ключевский; 1841–1911) und Sergej Fjo­do­ro­witsch Pla­tonow (Сергей Фёдорович Платонов;1860–1933) für die soge­nannte „Peters­burger Schule“ sowie Pawel Niko­la­je­witsch Mil­jukow (Павел Николаевич Милюков; 1859–1943) für die „Mos­kauer Schule“ mani­fes­tiert.  Dem­ge­genüber  pos­tu­liert die ukrai­nische Geschichts-schreibung eine Kon­ti­nuität , die von der „Kiewer Rus“ über das Fürs­tentum Galizien-Wol­hynien, die pol­nisch-litauische Epoche, das Hetmanat der Sapo­roschjer Kosaken im 17. und frühen 18. Jahr­hundert über die Ukrai­nische Volks­re­publik der Jahre 1917–1920 bis hin zum heu­tigen ukrai­ni­schen Staat reicht.

Ein­schüch­terung und Verstoß gegen „Pacta sunt servanda“

Putins his­to­risch-poli­ti­schen Ein­las­sungen  können aller­dings nicht bedeuten, dass wir zugleich die damit ver­bundene  Ein­schüch­terung gegenüber dem bil­ligen, was die 2010 unter seinem inte­ri­mis­ti­schen Vor­gänger Dimitrij Ana­tol­je­witsch Med­wedjew (Дмитрий Анатольевич Медведев)  ent­standene Mili­tär­doktrin, bei der Putin als Regie­rungschef die Feder führte, als „nahes Ausland“  (ближнее зарубежье/Blischneje Sar­ubeschje) und also „rus­sische Inter­es­sensphäre“  (Российская сфера влияния/Rossijskaja Sfera Bli­janija)  bezeichnete und im Zusam­menhang damit ein Inter­ven­ti­ons­recht „zum Schutze rus­si­scher Bürger“ pos­tu­lierte. (Gemeint sind ins­be­sondere die bal­ti­schen Staaten, die dadurch ihre Sicherheit gefähdet sehen und aus his­to­ri­scher Erfahrung rasch den Weg in Nato und EU beschritten, die Ukraine, Georgien sowie die zen­tral­asia­ti­schen Staaten, die alle nicht unbe­deu­tende rus­sische Min­der­heiten auf­weisen.) Ins­be­sondere in dem hier im Vor­de­grund ste­henden Kon­flikt mit der Ukraine im Falle der genannten Donbass-„Volksrepubliken“ mit ihren nicht aner­kannten, nach­ge­scho­benen „Refe­renden“ oder gar fak­tische mili­tä­rische Ein­griffe wie im Falle der Krim-Annexion mit eben­falls nicht aner­kannter nach­ge­scho­bener „Volks­ab­stimmung“ 2014 ist dies nicht akzep­tabel. Denn damit hat Russland als „Fort­set­zer­staat der Sowjet­union“ (gemäß der klas­si­schen Formel „Pacta sunt ser­vanda“) gegen mehrere völ­ker­rechtlich ver­bind­liche Abmachungen/Verträge verstoßen:

  • Gegen die Schlussakte von Hel­sinki (1975), in der sich die Sowjet­union wie alle anderen Teil­neh­mer­staaten zur „Ent­haltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt“ ebenso ver­pflichtete wie zur „Unver­letz­lichkeit der Grenzen aller Staaten in Europa“.
  • Gegen die „Charta von Paris“ (1990), worin „in Über­ein­stimmung mit unseren Ver­pflich­tungen gemäß der Charta der UN und der Schlußakte von Hel­sinki“ das „fei­er­liche Ver­sprechen erneuert“ wird, sich „jeder gegen die ter­ri­to­riale Inte­grität oder poli­tische Unab­hän­gigkeit eines Staates gerich­teten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sons­tigen mit den Grund­sätzen oder Zielen dieser Doku­mente unver­ein­baren Handlung zu ent­halten“, wobei „die Nicht­er­füllung der in der Charta der UN ent­hal­tenen Ver­pflich­tungen einen Verstoß gegen das Völ­ker­recht dar­stellt. Die Teil­neh­mer­staaten betrachten gegen­seitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unver­letzlich und werden deshalb jetzt und in der Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben.“ Und schließlich
  • Gegen das „Buda­pester Memo­randum“ (1994), worin sich die Ver­ei­nigten Staaten von Amerika (USA), Groß­bri­tannien und Russland in drei getrennten Erklä­rungen jeweils gegenüber Kasachstan, Weiß­russland und der Ukraine als Gegen­leistung für deren Nukle­ar­waf­fen­ver­zicht (und Über­stellung aller dort vor­han­denen Nukle­ar­waffen an Russland als den „Fort­set­zer­staat“ der Sowjet­union) „ver­pflichten, die Sou­ve­rä­nität und die bestehenden Grenzen“ dieser Länder ebenso zu achten wie die schon bestehende Ver­pflichtung zur Ent­haltung von Gewalt gemäß UN-Charta. Das Dokument wurde von allen betrof­fenen Ländern unter­zeichnet, und China sowie Frank­reich gaben zur Sicher­heits­ga­rantie der Ukraine aus­drücklich eigene Erklä­rungen ab.
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Der guten Ordnung und Red­lichkeit der Betrachtung halber ist in diesem Zusam­menhang aller­dings darauf hin­zu­weisen, dass „der Westen“ (wie es in Mos­kauer Lesart heißt), besser: die Nato unter Führung der USA, auch mehrfach gegen Völ­ker­recht ver­stieß. Hierfür sei quasi pars pro toto auf einen Fall dieser Art ver­wiesen: So hat der wis­sen­schaft­liche Dienst des Deut­schen Bun­destags den auch von Deutschland unter­stützten Mili­tär­schlag der USA, Groß­bri­tan­niens und Frank­reichs gegen Syrien als völ­ker­rechts­widrig ein­ge­stuft. „Der Einsatz mili­tä­ri­scher Gewalt gegen einen Staat, um die Ver­letzung einer inter­na­tio­nalen Kon­vention durch diesen Staat zu ahnden, stellt einen Verstoß gegen das völ­ker­recht­liche Gewalt­verbot dar”, heißt es in dem Gut­achten; es könnte natürlich gleich­falls für das dortige mili­tä­rische Enga­gement Russ­lands gelten, ganz zu schweigen von den mili­tä­ri­schen Inter­ven­tionen in Afgha­nistan (2001; zuvor durch die Sowjet­union 1979), im Irak (2003), in Libyen 2011  etc. etc. Und dass die USA, wie es auch Durn­walder rich­ti­ger­weise ansprach, in der Ukraine ihre Inter­essen ver­folgen und daher die „Hand im Spiel“ haben, würden wohl allen­falls poli­tisch Unbe­darfte bzw. Igno­ranten bestreiten.

Die geschicht­liche Entwicklung

Die Ukraine und die His­to­rio­graphie des Landes stellt zwar nicht die Gemein­sam­keiten mit sowie die Zuge­hö­rigkeit zu Russland und zur Sowjet­union infrage – dies wäre ohnehin paradox und ahis­to­risch – , gleichwohl aber wehren sie sich gegen die groß­rus­sisch-mos­ko­wi­tische  Insi­nuation  à la Putin sowie die daraus ent­stan­denen und damit ein­her­ge­henden poli­tisch-mili­tä­ri­schen Kon­flikte. Die Ukraine darf zurecht auch eine eigen(ständig)e nationale Iden­tität für ihr Staatsvolk in Anspruch nehmen, weil auch die rus­sische Min­derheit, ins­be­sondere dort, wo sie zah­len­mäßig am stärksten ist, nämlich im Osten und Süd(ost)en des Landes, bei der Aus­übung des Selbst­be­stim­mungs­rechts – hier ist wieder Hinweis auf dessen zwei­malige Ver­wei­gerung für die Süd­ti­roler zwingend – im sei­ner­zei­tigen Refe­rendum nach Untergang der Sowjet­union mehr­heitlich für die Eigen­staat­lichkeit, damit für die Sou­ve­rä­nität und die nationale Iden­tität des Landes, stimmten. Und weil die ukrai­nische und rus­sische His­to­rio­graphie zwar Phasen der Gemein­sam­keiten — der volk­lichen, der staat­lichen und der ter­ri­to­rialen — aber ebenso umfäng­liche Phasen der Trennung für die gut 1100 Jahre seit beider „Ein­tritt in die Geschichte“ auf­weisen. Es ist hier nicht der Raum, um die geschicht­liche Kom­ple­xität auch nur ansatz­weise dar­stellen zu können. Es mögen daher nur einige wirk­mächtige his­to­risch-poli­tische Facetten darauf genügen.

Kyjiw (Київ), also Kiew, ist nicht nur die Metropole der Ukraine (Україна/Ukrajina; rus­sisch Украина/Ukraina), sondern auch das älteste Sied­lungs­zentrum auf dem Boden des alt­rus­si­schen Reiches, der Kiewer Rus (rus­sisch Киевская Русь, ukrai­nisch Київська Русь, weiß­rus­sisch Кіеўская Русь). Nach ihrer Auf­lösung im 11. Jahr­hundert und der all­mäh­lichen Ver­la­gerung des Zen­trums nach Norden bildete sich im Westen der Ukraine ein neues Zentrum um die Fürs­ten­tümer Wla­dimir und Galitsch (daher später die Bezeichnung Galizien). Sie fielen Mitte des 14. Jahr­hun­derts an Polen; über den Rest, ein­schließlich Kiews, herrschte das auf­stre­bende Groß­fürs­tentum Litauen, nach der Union mit Polen 1569 gehörte nahezu das ganze Ter­ri­torium der heu­tigen Ukraine zum pol­nisch-litaui­schen König­reich, dessen Ter­ri­torium sich bis zum Schwarzen Meer erstreckte.  Im 17. Jahr­hundert kam die Ukraine links des Dnjepr zu Russland. Mit den rus­sisch-preu­ßisch-öster­rei­chi­schen Tei­lungen Polens fielen Galizien und die Bukowina an Öster­reich. In den unter habs­bur­gi­scher Herr­schaft ste­henden ukrai­ni­schen Gebieten ent­wi­ckelte sich nach 1848 eine Natio­nal­be­wegung, die sich gegen das in Galizien domi­nie­rende Polenturn richtete und um poli­tische Selbst­ver­waltung kämpfte. Diese his­to­rische Ent­wicklung hatte auch zur Folge, dass es in der Ukraine die beiden domi­nanten Kon­fes­sionen gibt: die mit dem Papst unierte Ukrai­nische grie­chisch-katho­lische Kirche (Українська греко-католицька церква; im Westteil des Landes) sowie die Ukrai­nische Orthodoxe Kirche, die dem mäch­tigen und mit der Staats­macht ver­bun­denen Mos­kauer Patri­archat unter­steht (im Zentrum, im Süden und Osten des Landes). Davon spaltete sich 2018 auf Betreiben Kiews die (nach wie vor geringere Bedeutung ent­fal­tende) Orthodoxe Kirche der Ukraine ab, die dem formell wich­tigen, aber kirchen- und real­po­li­tisch min­der­be­deu­tenden Patri­archen von Kon­stan­ti­nopel unter­stellt ist.

Unter den zu Russland gehö­renden Ukrainern, den “Klein­russen”, ent­standen erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahr­hundert ukrai­nische Par­teien. Die Natio­nal­be­we­gungen beider Pro­ve­ni­enzen ver­suchten nach der Okto­ber­re­vo­lution 1917, gefördert vom Deut­schen Kai­sser­reich, sowie nach dessen und der öster­rei­chisch-unga­ri­schen Habs­bur­ger­mon­archie Zusam­men­bruch die Errichtung eines ukrai­ni­schen Staats­wesens. 1919 riefen die Bol­schewiki die UkrSSR aus; die West­ukraine gehörte seit Sommer zu Polen, die ehedem zu Ungarn gehörige Karpato-Ukraine wurde Teil der Tsche­cho­slo­wakei, fiel aber nach 1945 wieder an die UkrSSR, damit die Sowjet­union, zurück. Stalin hat den in den 1920er und 1930er Jahren auch als Folge der Zwangs­kol­lek­ti­vierung und des Holo­domor (der erzeugten Hun­gersnot, der 4.000.000  Ukrainer zum Opfer fielen) abermals auf­kei­menden ukrai­ni­schen Natio­na­lismus grausam ver­folgt. Viele Ukrainer wurden nach Sibirien und Mit­tel­asien depor­tiert. Ebenso erging es den Krim­ta­taren sowie den Wolynien‑, Schwarzmeer- und Wol­ga­deut­schen; letztere durften zwi­schen 1924 und 1941 eine Autonome Sozia­lis­tische Sowjet­re­publik der Wol­ga­deut­schen (ASSRdWD) ihr Eigen nennen. Allen wurde  Kol­la­bo­ration mit der deut­schen Wehr­macht vorgeworfen.

Nach dem Untergang der Sowjetunion

Es war nicht Zufall, dass die sowjet­rus­sische Geschichts­schreibung unab­lässig darauf verwies, nach der Okto­ber­re­vo­lution habe die Ukraine als eine der ersten Repu­bliken den Wunsch geäußert, sich mit der Rus­si­schen Föde­ration zu ver­ei­nigen, weil sie die Wiege der ost­sla­wi­schen Völ­ker­fa­milie gewesen sei. Der wahre Grund lag darin, dass auch in der Ukraine die Bol­schewiki die Macht über­nommen hatten, um die Sehn­sucht der Ukrainer, ihr Natio­nal­be­wusstsein, mit einem eigenen Staat zu krönen, zunichte zu machen. Bei den Fei­er­lich­keiten zum 50. Jah­restag der Sowjet­union 1972 war die “mul­ti­na­tionale Sowjet­ge­sell­schaft” beschworen worden. Unter dieser Chiffre verbarg sich in Wirk­lichkeit aber die Fort­setzung des rigiden Rus­si­fi­zie­rungs­pro­zesses, dem die nicht­rus­si­schen Völker seit der „Sammlung der rus­si­schen Erde“ nach Abschütteln des Tata­ren­jochs sowie der Krönung des Mos­kauer Groß­fürsten Iwan IV./Iwan Grosnyj/Iwan der Schreck­liche zum ersten Zaren und fortan während des gesamten auto­kra­ti­schen Zartums Russland bis Nikolaus II. unterlagen.

Damals nahmen die Regungen natio­nalen Eigen­stän­dig­keits­be­wusst­seins zu. Der Anteil der nicht­rus­si­schen über­stieg all­mählich den der rus­si­schen Bevöl­kerung, vor allem wegen der höheren Gebur­ten­raten in den zen­tral­asia­ti­schen und kau­ka­si­schen Repu­bliken. Gegen die Rus­si­fi­zierung wandten sich, vor­wiegend auch aus religiös-natio­nalen Gründen, Juden, Balten, Ukrainer und Krim­ta­taren. Als der Atom­phy­siker Andrej Sacharow in einem Memo­randum die Demo­kra­ti­sierung der UdSSR for­derte, setzte die Kreml­führung die alt­her­ge­brachten Instru­mente zur Dis­zi­pli­nierung und Unter­werfung der unbot­mä­ßigen Dis­si­denten- und Natio­na­li­tä­ten­be­we­gungen ein: poli­tische Straf­pro­zesse, lang­jäh­riger Frei­heits­entzug in Gefäng­nissen und Lagern, Zwangs­ein­weisung in Ner­ven­heil­an­stalten, frei­willige oder Zwangs­emi­gration und Aus­bür­gerung. Der spek­ta­ku­lärste Fall war die Aus­weisung des Lite­ra­tur­no­bel­preis­trägers Sol­sche­nizyn. 1974 waren den inter­na­tio­nalen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen 10.000 poli­tische Häft­linge bekannt. Ange­sichts dieser tief­sit­zenden his­to­ri­schen Erfah­rungen war es nur umso ver­ständ­licher, dass mit dem Sys­tem­kollaps 1990/1991 die nicht­rus­si­schen Völker ein­schließlich der Ukrainer die „Gunst der Stunde“ für nationale Sou­ve­rä­nität und Eigen­staat­lichkeit nutzten.

In der Ukraine stellten Ukrai­nisch und Rus­sisch als die beiden maß­geb­lichen sprach­lichen Ver­stän­di­gungs­mittel kein Hin­dernis dar, da sie sich nur gering­fügig (in Pho­netik und Gra­phe­matik) von­ein­ander unter­scheiden, die ukrai­nische Bevöl­kerung beider Sprachen mächtig ist.  In der Ost-Ukraine fühlen sich die mehr­heitlich eth­ni­schen Russen nicht durchweg  zu Russland bzw. dem Rus­sentum hin­ge­zogen. Dies ist übrigens besonders daran zu erkennen, dass die beiden sezes­sio­nis­tisch aus der Urkaine fort­stre­benden „Volks­re­pu­bliken“ DNR und LNR ter­ri­torial und bevöl­ke­rungs­mäßig  nicht mit den eigent­lichen ukrai­nisch-staat­lichen Ver­wal­tungs­be­zirken Donezk und Lugansk über­ein­stimmen,  deren „Herr­schaft“ sich allen­falls zu zwei Dritteln auf besagte Ver­wal­tungs­be­zirke erstreckt.  Dennoch spielt die ukrai­nische Sprach­po­litik eine nicht zu unter­schät­zende Rolle, zumal der Kon­flikt mit den beiden „Volks­re­pu­bliken“ und mit Russland durch das umstrittene Sprach­gesetz weiter befeuert wurde. Das Gesetz, 2019 vom dama­ligen Prä­si­denten Petro Olek­si­jo­wytsch Poro­schenko / Петро Олексійович Порошенко  nach mehr­jäh­rigen Debatten, Abstim­mungen, Novellen, Ver­fas­sungs­ge­richts­ent­scheid und Befassung der Venedig-Kom­mission des Euro­parats unter­zeichnet, erklärt das Ukrai­nische zur ver­bind­lichen Staats­sprache und weist dem Rus­si­schen nebst  „klei­neren“ Sprachen wie Bul­ga­risch, Pol­nisch, Rumä­nisch und Unga­risch den Min­derrang von Regio­nal­sprachen zu, wobei in Erzie­hungs- und Bil­dungs­ein­rich­tungen  bis zu den Hoch­schulen Ukrai­nisch ver­pflich­tender Standard und Unter­richts­sprache ist. Nicht nur mit Russland, das die Ange­le­genheit bis vor die UN trug, sondern auch mit Ungarn, das die sich zurecht zurück­ge­setzt füh­lenden 200.000 eth­ni­schen Magyaren der Karpato-Ukraine unter­stützt, führte dies zu ernst­haften Aus­ein­an­der­set­zungen, sodass Budapest stets und überall bekundet, es werde  die poli­ti­schen Belange der Ukraine gegenüber EU und Nato tor­pe­dieren, solange Kiew keinen wirk­samen Min­der­hei­ten­schutz walten lasse und das dis­kri­mi­nie­rende Sprach­gesetz inkraft sei. 

Das Minsker Abkommen

Hin­sichtlich des ukrai­nisch-rus­si­schen Kon­flikts um die „Volk­re­pu­bliken“ Donezk und Lugansk ist schließlich auf das  Minsker Abkommen – 2015 geschlossen und unter­zeichnet von den Prä­si­denten Putin (Russland) und Poro­schenko (Ukraine) sowie der deut­schen Kanz­lerin Merkel und dem fran­zö­si­schen Prä­si­denten Hol­lande – hin­zu­weisen, worin aus­drücklich die „unein­ge­schränkte Achtung der Sou­ve­rä­nität und der ter­ri­to­rialen Unver­sehrtheit der Ukraine bekräftigt“ worden ist. In einem der ins­gesamt 13 ent­hal­tenen Punkte des Abkommens war fest­gelegt,  dass mittels einer ukrai­ni­schen Ver­fas­sungs­än­derung eine Dezen­tra­li­sierung des Landes mit der Gewährung eines „Son­der­status für die  Gebiete in der Ost-Ukraine“ vor­zu­sehen sei. Im Rahmen dessen sollte die „sprach­liche Selbst­be­stimmung“ der  Bevöl­kerung und eine „enge, grenz­über­schrei­tende Koope­ration der Gebiete von Lugansk und Donezk mit den angren­zenden rus­si­schen Grenz­ge­bieten fest­ge­schrieben“ werden. Russland hatte sich zudem ver­pflichtet, die ter­ri­to­riale Inte­grität der Ukraine zu respek­tieren und am Ziel einer fried­lichen Reinte­gration der „bestimmten Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk/Lugansk” mitzuwirken.

Gast­geber und Unter­zeichner des Minsker Abkommens im Februar 2015: Lukaschenka, Putin, Merkel, Hol­lande, Poro­schenko (Foto: CC-BY 4.0 )

Aus der „Gewährung eines ‚Son­der­status für die Gebiete in der Ost-Ukraine‘“ wurde am Tiber durch den rus­si­schen Bot­schafter beim Vatikan quasi zweck­dienlich sowie zuvor bereits durch die ita­lie­ni­schen Kurzzeit-Minis­ter­prä­si­denten Renzi und Gen­tiloni, um sich für Italien die angeblich vor­bild­liche Lösung des Süd­tirol-Kon­flikts sozu­sagen ans Revers zu heften – wozu Rom, wie wir wissen, gezwungen werden musste – sowie an der Etsch durch den im Altenteil befind­lichen frü­heren Lan­des­hauptmann Durn­walder allzu nass­forsch und im eifernden Beglü­ckungston  der „Wir Südtiroler“-Attitüde inter­pre­tiert, es handele sich um eine Auto­nomie und es böte sich just jene der Pro­vincia autonoma di Bolzano — Alto Adige / Auto­nomen Provinz Bozen-Süd­tirol quasi als „Export-Modell“ an.

Selbst wenn im Minsker Abkom­menstext  tat­sächlich „Auto­nomie“ vorkäme, so hätten sich die vor­lauten Lösungs­kom­petenz-Pre­diger erst einmal damit ver­traut machen sollen, was man in Moskau, Kiew, Donezk und Lugansk  unter besagtem Begriff über­haupt  ver­steht. Wer die his­to­risch-poli­ti­schen Gege­ben­heiten dessen kennt, was die Sowjet­union einst dar­unter ver­stand, wo es 20 der­artige Gebilde namens „Autonome Repu­bliken“ gab,  und was in Russland, wo es deren 85 „Föde­ra­ti­ons­sub­jekte“  in Gestalt von  22 „Auto­nomen Repu­bliken“ (ein­schließlich der annek­tierten Krim),  9 „Auto­nomen Regionen“ (Kraja/ края ),  47 „Auto­nomen Gebieten“ (Oblasti/ Области) sowie  4 „Auto­nomen Kreisen“ (Okruga/Округа) gibt, die an Größe und Zustän­dig­keiten dif­fe­rieren, aber wie einst in der Sowjet­union auch in Russland der Mos­kauer Zen­tral­gewalt unter­worfen und auf Trans­fer­leis­tungen von dort ange­wiesen sind, kann dies kaum mit jener Süd­tirol-Auto­nomie nach zweitem Statut von 1972 in Ein­klang bringen. Eher schon mit der geschröpften Reduk­ti­onsform (spä­testens) seit Mario Monti, wogegen sich die zwar zur Wehr set­zende maß­geb­liche Regie­rungs­partei in Bozen nicht wirklich durch­setzen konnte und dennoch wider bes­seres Wissen in der poli­ti­schen Aus­ein­an­der­setzung gern unter dem Schlagwort „Dynamik“ unters Wahlvolk streute. 

Ver­fehlte Perspektive

Summa sum­marum gou­tiert man nicht unbe­sehen die schmeich­le­ri­schen Töne eines rus­si­schen Diplo­maten, selbst wenn dieser eigens von Putin auf diesen Posten berufen worden ist und als solcher im Vatikan ein und aus geht. Vor allem aber  lässt man sich nicht ohne die not­wen­digen Grund­kennt­nisse über die Anders­ar­tigkeit his­to­risch-poli­ti­scher Gege­ben­heiten  bzw. ohne Rat von Fach­leuten – wie dies bei­spiels­weise der frühere öster­rei­chische Bun­des­kanzler Wolfgang Schüssel tat, wenn er gen Moskau reiste und den Grazer His­to­riker Stefan Karner mit dabei hatte, der einer der besten Kenner der aus der Sowjet­union her­vor­ge­gan­genen sla­wi­schen Staaten ist — zu (zwar durchaus gut gemeinten) Vor­schlägen aus der spe­zi­fi­schen Pro­vinz­per­spektive ver­leiten. Diese dürften von den Akteuren im welt­po­li­tisch bedeut­samen Russland-Ukraine-Kon­flikt  eher belä­chelt werden.