Selber denken – heute eine radikale Auforderung

(von Gast­autor Dr. Wolfgang Hintze)

Am 29. August 2017 haben 15 Hoch­schul­lehrer der Elite-Uni­ver­si­täten Princeton, Harvard und Yale einen offenen Brief an die Stu­denten geschrieben, die jetzt aus den Semes­ter­ferien zurück­kehren. Moderat for­mu­liert, suversiv in seiner Ein­fachheit, ein Plä­doyer für die intel­lek­tuelle Unab­hän­gigkeit, gegen geistige Enge der poli­ti­schen Kor­rektheit, mit der inzwi­schen radi­kalen Auf­for­derung an die Stu­denten: denkt selber ! Ein Text, der in Deutschland genauso dringlich ist – und das nicht nur für die Universitäten.

Hier der Link auf den Originaltext:
https://jmp.princeton.edu/announcements/some-thoughts-and-advice-our-students-and-all-students
Es lohnt sich, auch die darin am Ende ange­ge­benen Links durchzusehen.

Hier meine Übersetzung:

Einige Gedanken und Hin­weise für unsere Stu­denten und alle Studenten

29. August 2017

Wir sind Wis­sen­schaftler und Hoch­schul­lehrer an den Uni­ver­si­täten von Princeton, Harvard und Yale, und wir wollen den Stu­denten, die jetzt im ganzen Land auf das College kommen, einige Gedanken und Hin­weise über­mitteln. Unser Rat kann auf zwei Wörter redu­ziert werden:

Denkt selber.

Nun, das klingt sehr einfach. Aber Ihr werdet ent­decken – wie es viele von Euch bereits auf der High­school getan haben – dass selber denken eine Her­aus­for­derung ist. Es braucht dazu immer Selbst­dis­ziplin, und heut­zutage kann es auch Mut erfordern.

Im gegen­wär­tigen Klima ist es ja so einfach, Eure Ansichten und Euer Weltbild von der vor­herr­schenden Meinung prägen zu lassen, die Ihr auf Eurem Campus oder im wei­teren aka­de­mi­schen Umfeld vor­findet. Die Gefahr, der sich jeder Student – oder jedes Fakul­täts­mit­glied – gegen­über­sieht, ist die Unsitte, dem Kon­for­mismus zu ver­fallen und dem Grup­pen­denken nachzugeben.

An vielen Col­leges und Uni­ver­si­täten bewirkt die „Tyrannei der öffent­lichen Meinung“ – wie John Stuart Mill sie nannte – nicht nur, dass den Stu­denten der Mut genommen wird, sich den vor­herr­schenden Ansichten über Moral, poli­tische und andere Fragen, ent­ge­gen­zu­stellen. Sie führt die Stu­denten vielmehr zur der Über­zeugung, dass die herr­schenden Ansichten so offen­sichtlich richtig sind, dass nur ein Eiferer oder Spinner sie in Frage stellen könnte.

Da aber niemand ein Eiferer oder Spinner sein oder dafür gehalten werden will, besteht die ein­fache und bequeme Ver­hal­tens­weise darin, der Ortho­doxie des Campus‘ zu folgen.

Macht das nicht so. Denkt selber. 

Selber denken heißt, die herr­schenden Ideen auch dann zu hin­ter­fragen, wenn andere darauf bestehen, dass sie als nicht hin­ter­fragbar behandelt werden müssen. Es bedeutet zu ent­scheiden, dass das, woran man glaubt, sich nicht an modi­schen Trends zu ori­en­tieren hat, sondern dass man sich der Mühe unter­ziehen muss, die stärksten Gegen­ar­gu­mente ken­nen­zu­lernen und ehrlich in Betracht zu ziehen, dar­unter Argu­mente, die von anderen ver­un­glimpft oder stig­ma­ti­siert werden, oder Auf­fas­sungen, die andere vor einer kri­ti­schen Analyse schützen möchten.

Eure Moti­vation selbst­ständig zu denken, sollte die Liebe zur Wahrheit sein und der Wunsch, die Wahrheit zu finden. Der Kern­punkt der College-Aus­bildung besteht darin, die Wahrheit zu suchen und die Kennt­nisse und Fähig­keiten für eine beständige Wahr­heits­suche zu erwerben. Auf­ge­schlos­senheit, kri­ti­sches Denken und Debat­tieren sind grund­le­gende Vor­aus­set­zungen für die Wahr­heits­findung. Außerdem sind sie unser bestes Gegen­mittel gegen Eng­stir­nigkeit und Fanatismus.

Merriam-Websters erste Defi­nition des Wortes „Fana­tiker“ (bigot) ist jemand, „der starr­sinnig oder into­lerant an seiner Auf­fassung und seinen Vor­ur­teilen festhält.“ Die ein­zigen Men­schen, die offenes Hin­ter­fragen und eine ernst­hafte Debatte fürchten müssen, sind die Fana­tiker; dar­unter die auf dem Campus oder in der Gesell­schaft all­gemein, die ver­suchen, die Hege­monie ihrer Mei­nungen zu schützen, indem sie behaupten, die Infra­ge­stellung ihrer Auf­fas­sungen sei selber ein Aus­druck von Fanatismus.

Also lasst Euch nicht von der öffent­lichen Meinung tyran­ni­sieren. Ver­fangt Euch nicht in einer Echo­kammer. Wenn Ihr am Ende eine Ansicht ablehnt oder ihr zuneigt, ver­si­chert Euch, dass Ihr zu Eurem Stand­punkt durch kri­tische Analyse aller Gegen­ar­gu­mente gelangt seid.

Denkt selbst­ständig, denkt selber 

Viel Glück im College

Es folgt Liste der Unterzeichner

 

dieser Beitrag erschien zuerst auf vera-lengsfeld.de