Jamaika-Ver­hand­lungen: 237 Kon­flikt­punkte und ein Befehl

Eine halbe Woche nach dem Scheitern der Jamaika-Ver­hand­lungen haben sich die Erre­gungs­wogen noch nicht geglättet. Unser Medi­en­kartell, das immer noch nicht fassen kann, dass seine Traum-Koalition nicht zustande kam, kann sich ebenso wenig wie die Kanz­lerin ein­ge­stehen, dass es kom­plett falsch lag in der Annahme, es müsste nur klar genug machen, was es will, damit es geschieht.

Deutlich genug war der Medi­en­wunsch, aber ebenso an der Rea­lität vorbei, wie der Wille, Donald Trump zu ver­hindern und den Brexit scheitern zu lassen.

Dabei hatte doch der Spiegel ein­drücklich ver­langt, den Wahl­kampf, samt der Zusagen an die Wähler zu ver­gessen und zusam­men­zu­kitten, was nicht kom­pa­tibel war. Bild befahl gar: „Einigt Euch!“. Aber die Zeiten, wo ein Kanzler meinte, lediglich mit Bild und Glotze regieren zu können, sind glück­li­cher­weise vorbei. Vorbei auch die Zeiten, da Bild das Ohr an der Masse hatte und sich danach aus­richtete, was seine Leser erwar­teten. Die Schüt­zen­hilfe für die Macht­er­haltung von Merkel lässt die Leser­zahlen weiter in den Keller rauschen.

Nach dem berech­tigten Rückzug der FDP wurde unser Land noch einmal von einer Dem­ago­gie­welle über­schwemmt. Mit Tricksen und Täu­schen wurde ver­sucht, der FDP die alleinige Schuld am Scheitern der Ver­hand­lungen in die Schuhe zu schieben, gepaart mit dem Vorwurf der Ver­ant­wor­tungs­lo­sigkeit. Letz­teres zeigt, wie gefährlich sich die Maß­stäbe in Merkel-Land bereits ver­schoben haben.

Wer sich auf die guten demo­kra­ti­schen Spiel­regeln besinnt und die gebotene Ver­ant­wortung gegenüber seinen Wählern zeigt, ist ein „Spiel­ver­derber“ (sic!), ein „Jamaika-Töter“(Bild) oder „hai­de­ri­siert“ (SZ). Wer dagegen rück­sichtslos macht­po­li­tisch agiert und mit nichts­sa­genden Floskeln und teuer erkauften „Kom­pro­missen“ handelt, ist „ver­ant­wortlich“.

Kanz­lerin Merkel ver­kündete in der Nacht vom Sonntag auf Montag, dies sei ein Tag des „tiefen Nach­denkens“. Sie scheint so wenig nach­ge­dacht zu haben, wie sie die ver­spro­chene Wahl­analyse statt­finden ließ. Das Resultat war, sie hätte bei den Ver­hand­lungen keinen Fehler gemacht und wolle wieder als Spit­zen­kan­di­datin antreten, falls es Neu­wahlen gäbe.

Außerdem behauptete sie, die weitere Ent­wicklung hinge allein vom Bun­des­prä­si­denten ab. Mit dieser Schutz­be­hauptung hat sie sich aus der Ver­ant­wortung gestohlen, wie sie es immer tut, wenn wirk­liche Ent­schei­dungen anstehen. Wir kennen diese Haltung vom Atom­aus­stieg, den sie anordnete, die Ver­ant­wortung dafür aber den Ländern zuschob, oder beim Bruch des Lis­sabon-Ver­trags, wo sie in Moskau am „Tag des Sieges“ mit ihrem damals noch guten Freund Wla­dimir Putin auf der Tribüne saß und die ent­schei­dende Abstimmung ihrem Knappen Thomas de Mai­zière überließ. Ein ähn­liches Ver­hal­tens­muster bestimmte die Jamaika-Ver­hand­lungen. Merkel beschränkte sich auf bloße Mode­ration und unterließ es, einen Ver­hand­lungs­rahmen zu setzen. Sie hätte an Hand des Zuwan­de­rungs­kom­pro­misses der Union klare Linien ziehen müssen, wie ihre künftige Politik aus­sehen soll. Statt dessen hat sie es voll­ständig den kleinen Partnern über­lassen, den Rahmen dafür aus­zu­handeln. Unpar­teiisch war sie dabei nicht, denn sie hat sich ein­deutig auf die Seite der Grünen geschlagen. Ihr ein­ziger inhalt­licher Beitrag war der Satz „Ich will es so“, mit dem sie die Bun­des­tags­fraktion abfertigte.

Wenn etwas die Ver­ant­wor­tungs­scheu Merkels über­stieg, dann ist es die Ser­vi­lität der „Hoff­nungs­träger“ der CDU, die sich wider­standslos in den Untergang Merkels hin­ein­ziehen ließen. Kein Wort von Jens Spahn. Julia Klöckner ließ sich sogar zu Tweets gegen die FDP hin­reißen. Es blieb der Jungen Union Düs­seldorf und der Wer­te­union, einer frisch gegrün­deten Ver­ei­nigung der letzten Kon­ser­va­tiven in der CDU, vor­be­halten, den Rück­tritt Merkels zu fordern.

Noch-CSU-Chef See­hofer hat gar seine Maske als angeb­licher Merkel-Kri­tiker fal­len­lassen und sich voll hinter die Kanz­lerin gestellt. Indem er von Anfang an eifrig an der grünen Legende mit­strickte, eine Einigung hätte kurz bevor­ge­standen, hat er gleich­zeitig keine Zweifel mehr daran gelassen, dass er in den letzten Jahren mit Merkel ein Dop­pel­spiel zur Irre­führung der Öffent­lichkeit betrieben hat. Um die Stamm­wähler nicht gänzlich zu ver­prellen, gau­kelte See­hofer eine Unions-interne Oppo­sition gegen die Politik der Kanz­lerin vor. Auch eher unauf­merk­samen Beob­achtern fiel irgendwann auf, dass See­hofer keine einzige seiner Ankün­di­gungen auch nur ansatz­weise wahr machte. Im Gegenteil: Als das von Bayern bestellte Gut­achten fest­stellte, dass die Grenz­öffnung im Sep­tember 2015 tat­sächlich ver­fas­sungs­widrig war, ließ See­hofer es unter den Tisch fallen. Die span­nende Frage ist, ob die Hoff­nungs­träger der CSU Söder und Dob­rindt sich ebenso weg­ducken wie Spahn und Klöckner, oder ob sie sich an Christian Lindner ein Bei­spiel nehmen und endlich die Reiß­leine ziehen und See­hofer in den Ruhe­stand schicken.

Wenn es keinen anderen Grund gäbe, dann genügte das üble Spiel, mit dem der Öffent­lichkeit sug­ge­riert werden sollte, in den Jamaika-Ver­hand­lungen hätte es eine Ver­ein­barung über eine Ober­grenze für die Zuwan­derung gegeben.

Zum Glück gibt es die Grünen-Chefin Simone Peter, die in der Talkshow bei Plasberg in aller naiven Offenheit bekundete, es hätte nie eine Ver­ein­barung über die Begrenzung der Zuwan­derung gegeben. Peters war es auch, die öffentlich ver­kündete, es sei „egal“, ob der Ver­bren­nungs­motor 2030 oder 2032 ver­boten würde. Das heißt, anders als in der Legende, die nach den Ver­hand­lungen ver­breitet wurde, haben sich die Grünen keinen Deut bewegt.

Sie haben auch kei­nerlei Kom­pro­misse mit der FDP geschlossen. Jürgen Trittin ver­danken wir das Ein­ge­ständnis in seinem Welt-Interview, dass der FDP ange­boten worden war, den Soli in der nächsten Legis­la­tur­pe­riode abzu­bauen. In der nächsten Legis­la­tur­pe­riode wäre die FDP mit Sicherheit nicht mehr dabei gewesen, hätte sie sich auf so einen ober­faulen Deal eingelassen.

Nein, außer Stim­men­be­schaffer zu sein, war für die FDP im schwarz-grünen Alb­traum nichts vor­ge­sehen. Merkel konnte es nicht fassen, dass Lindner nicht reagierte wie Guido Wes­ter­welle, der sich der Illusion hin­ge­geben hatte, zu den Freunden Merkels zu zählen. Schließlich hatte er beim 50. Geburtstag der Kanz­lerin in der ersten Reihe gesessen, die den Merkel-Ver­trauten vor­be­halten war. Wes­ter­welle ließ sich über den Tisch ziehen, Lindner nicht.

Auch die Grünen, im Gefängnis ihrer Arroganz der Macht, haben tat­sächlich geglaubt, dass es aus­reiche, die volle Rücken­de­ckung der Kanz­lerin zu haben, um ihr Ziel zu erreichen. Wie alle Sekten setzten sie ihre Über­zeu­gungen absolut und schlagen um so härter in der Rea­lität auf. Cem Özdemir, der sich anscheinend schon selbst vor dem Spiegel als Außen­mi­nister begrüßte, war seine Ver­wirrung anzu­sehen. Er wie­der­holte, dass man „so nah“ an einer Einigung gewesen wäre, als die FDP die Regie­rungs­träume platzen ließ. Ja, beinahe hätten sich die Grünen mit ihrem vollen Pro­gramm durch­ge­setzt. Die FDP sollte nur noch ein bisschen weicher geklopft werden. Auch Frau Göring-Eckardt, die irgendwas mit „Soziales“ im Minis­terrang werden sollte, wo sie die Mög­lichkeit gehabt hätte, ihre unsäg­liche Ankün­digung, Deutschland brauche auch Men­schen, die sich „in unseren Sozi­al­sys­temen wohl und sicher fühlen“ noch offen­siver in die Tat umzu­setzen, kann es nicht fassen, dass dieser Traum nicht wahr wird. Weil sie aber von ihren All­machts­phan­tasien nicht ablassen kann, hat sie schon mal wie Kanz­lerin Merkel ange­kündigt, wieder als Spit­zen­kan­di­datin antreten zu wollen, falls es zu Neu­wahlen kommt. Wie Merkel denkt Göring-Eckardt nicht daran, Ver­ant­wortung zu über­nehmen. Für die kata­stro­phalen Wäh­ler­ver­luste in 2013, die bei dieser Wahl nicht wieder gut gemacht werden konnten, musste allein Jürgen Trittin gerade stehen.

Trotz des medialen Trom­mel­feuers gegen die FDP, die aber die Fakten auf ihrer Seite hat, ist es nicht gelungen, die Öffent­lichkeit irre­zu­führen. Bei 237 offenen Kon­flikt­punkten am Sonn­tag­abend kann von einer kurz bevor­ste­henden Einigung nicht die Rede sein.

In einer Welt-Umfrage sagen 82% der Leser, dass die FDP richtig gehandelt habe, als sie die Ver­hand­lungen abbrach. Ach der FOCUS musste zugeben, dass 41% seiner Befragten der Meinung sind, dass die Grünen schuld am Scheitern von Jamaika sind. Nur 35% sehen den schwarzen Peter bei der FDP.

Es sollte jetzt unver­züglich Neu­wahlen geben. Die Zusam­men­setzung des jet­zigen Bun­des­tages ist ohnehin ver­fas­sungs­widrig, weil die Zahl der Über­hangs­mandate die fest­ge­legte zulässige Anzahl weit über­steigt. Es sind zahl­reiche Klagen gegen die Abge­ord­ne­ten­ver­mehrung ein­ge­reicht worden. Mit der Neuwahl könnte gleich­zeitig die Ver­fas­sungs­mä­ßigkeit wie­der­her­ge­stellt werden. Es wird höchste Zeit, dass die Demo­kratie in Deutschland wie­der­her­ge­stellt wird.

Vera Lengsfeld / vera-lengsfeld.de