Chris­ten­ver­folgung damals – und heute: Der Völ­kermord an den Arme­niern war nur der Anfang

Arme­nische Mädchen, von Sol­daten des jung­tür­ki­schen Regimes ans Kreuz genagelt. Um ihres Glaubens willen. Dieses Bild ist grau­en­er­regend. Es ist eine der raren Ori­gi­nal­pho­to­gra­phien, die Augen­zeugen in den Jahren 1915 und 1916 aus dem Gebiet Arme­niens her­aus­schmuggeln konnten. Am 24. April jährt sich der Beginn dieses Genozids, vor genau 103 Jahren begann der arme­nische Holocaust.
(Von Sebastian Sigler)
Das Armenien, das bis zum Beginn des 20. Jahr­hun­derts exis­tierte, ist aus­ge­löscht. Das Bild der arme­ni­schen Mädchen, gekreuzigt – es ist uner­träglich. Es ist eine Ori­gi­nal­quelle. So sah es, wer sehen wollte, vor etwas mehr als hundert Jahren überall in West- und Zen­tral­ar­menien, einem Gebiet, das heute als „Nordost-Ana­tolien“ bezeichnet wird. Wobei die Männer in aller Regel aus­nahmslos ermordet wurden, während Frauen und Mädchen oft nicht gequält und ermordet, sondern ent­weder als Skla­vinnen ver­kauft oder zu sexu­eller Aus­beutung miss­braucht wurden.
Der Völ­kermord im Vor­gän­ger­staat der heu­tigen Türkei ver­folgt uns bis heute. In Herford ließen Ver­ant­wort­liche in der DITIB-Moschee eine ganze Reihe von Kindern auf­mar­schieren, mit Plas­tik­ge­wehren. Die Jungens para­dierten in mili­tä­ri­schem Gleich­schritt vor einer über­großen tür­ki­schen Fahne und ließen sich dann thea­tra­lisch zu Boden fallen – wie getötete Sol­daten. Mit dieser makabren Vor­führung sollte an die Schlacht von Gal­lipoli erinnert werden, war aus der Moschee zu hören. Und ange­sichts mas­siver Pro­teste in der Öffent­lichkeit setzte man hinzu, dass es bereits „per­so­nelle Kon­se­quenzen“ gegeben habe.
Die Nach­frage von Jour­na­listen, worin denn diese Kon­se­quenzen bestünden, wurde lapidar beant­wortet: Der Betref­fende sei ermahnt worden. Zu deutsch: Die Öffent­lichkeit wurde gehörig hinter die ost­west­fä­lische Fichte geführt, und die isla­mische Geist­lichkeit in tür­ki­schen Diensten ist im beschau­lichen Nir­gendwo am Egge­ge­birge wohl ernsthaft der Meinung, damit käme sie durch. Und wirklich: Der Auf­schrei in der Öffent­lichkeit blieb weit­gehend aus. Die Moschee ist nicht geschlossen, es gibt keine Ermitt­lungen wegen Volks­ver­hetzung, ja, nicht einmal die Unter­bringung der betrof­fenen Kinder in Ein­rich­tungen, in denen sie nicht derart miss­braucht werden, scheint erwogen worden zu sein. Liegt es daran, dass die vom tür­ki­schen Staat kon­trol­lierte DITIB gewisse Frei­heiten genießt? Wird hier eine „sou­mission“ im Sinne Hou­el­le­becqs bereits Wirklichkeit?
Gal­lipoli war nur ein Anfang
Unmit­telbar auf den Sieg der Hohen Pforte und der Mit­tel­mächte auf der Halb­insel Gal­lipoli folgte der Angriff auf die Armenier im ganzen osma­ni­schen Reich. Das ist logisch, weil die Halb­insel der Stadt Istanbul vor­ge­lagert ist, sie mili­tä­risch bedeckt. Und dort, in der großen Stadt, wohnten viele Armenier. Sie wurden aus­nahmslos ver­trieben, und in Armenien ging das Morden umso schlimmer weiter. Es ging um die Vision von einer ras­sisch „reinen“ Türkei.
Die Vor­stellung ist in der heu­tigen Wirk­lichkeit von der Vor­stellung abgelöst worden, es müsse eine religiös gesäu­berte, hun­dert­pro­zentig dem sun­ni­ti­schen Islam anhän­gende Bevöl­kerung geben. Atatürk war offenbar nur die lai­zis­tische Aus­nahme. Aber die Flamme der Hoffnung, die das uralte christ­liche Volk der Armenier trägt, konnte nicht einmal der tür­kische Völ­kermord löschen. Auch heute gibt es einen arme­ni­schen Staat. Die Tra­dition eines christ­lichen Staats­wesen in Armenien ist dabei bekann­ter­maßen älter als die­jenige in Rom.
Nicht ver­gessen seien die Aramäer, die weiter südlich in Klein­asien ihre Heimat hatten, bis der tür­kische Völ­kermord auch sie traf. Ihre Tra­dition ist noch älter, sie reicht bis zur Urkirche des 1. Jahr­hun­derts zurück, ihre Lit­ur­gie­sprache ist die­selbe, die Jesus sprach. Wer hören möchte, wie das Vater­unser aus dem Mund Jesu Christi geklungen hat, möge in eine ara­mäische Kirche gehen. Es gibt solche Kirchen auch in Deutschland, denn hun­dert­tau­sende Aramäer wurden durch die tür­ki­schen Macht­haber aus Klein­asien vertrieben.
Im Schatten der Auf­ar­beitung des Ersten Welt­krieges wurde die Bestrafung der Ver­ant­wort­lichen nicht einmal ver­sucht, bis 1921 wurde schließlich auch noch in regio­nalen Kon­flikten wei­ter­ge­kämpft; und nachdem im Jahre 1922 und 1923 im Zuge der Gründung der heu­tigen Türkei weitere schreck­liche Mensch­heits­ver­brechen zu beklagen waren, vor allem an den seit knapp 3.000 Jahren in West­ana­tolien ansäs­sigen Griechen, geriet der ent­setz­liche Völ­kermord aus dem Fokus. Die Ver­treibung der Pontos-Griechen aus dem mehr­heitlich grie­chi­schen Smyrna, dem heu­tigen rein tür­ki­schen Izmir, und die völ­ker­mord­artige „Säu­berung“ von Adria­nopel, dem heu­tigen Edirne, mögen bei­spielhaft stehen. Der ras­sereine Staat eines tür­ki­schen „Her­ren­volkes“ wurde schon 1923 zu bauen begonnen. Und ein deut­scher Dik­tator hat sich dieses Expe­riment gut angeschaut.
Ein Volk, ein Reich, ein Sultan
Der Völ­kermord an den Arme­niern blieb völ­ker­rechtlich prak­tisch unge­sühnt. Das haben Stalin und Hitler wohl bemerkt. Im Dritten Reich war die Aus­lö­schung wesent­licher Teile Arme­niens, war der tür­kische Völ­kermord sogar Vorbild und Blau­pause für die Planung des Mensch­heits­ver­bre­chens schlechthin, den Holo­caust. Doch die Grundlage für die Schaffung des Staates am Bos­porus war zu allen Zeiten der Islam, auch wenn der Atatürk von 1923 an den Lai­zismus pro­pa­gierte. Seit jüngster Zeit wandelt sich die Türkei fol­ge­richtig zurück und wird strikt isla­misch, ja, isla­mis­tisch. Der neue Atatürk hat soeben sein Ermäch­ti­gungs­gesetz bekommen. Was werden die Jahre ab 2019 bringen?
Samuel Zur­linden beschreibt anschaulich, was im Vor­gän­ger­staat der heu­tigen Türkei vor nur 100 Jahren möglich war: „Don­nerstag, den 1. Juli (1915), wurden alle Straßen von Gen­darmen mit auf­ge­pflanztem Bajonett bewacht, und das Werk der Aus­treibung der Armenier aus ihren Häusern begann. Gruppen von Männern, Frauen und Kindern mit Lasten und Bündeln auf dem Rücken wurden in einer kleinen Quer­straße in der Nähe des Kon­sulats gesammelt und, sobald etwa hundert zusam­men­ge­kommen waren, wurden sie von Gen­darmen mit auf­ge­pflanztem Bajonett am ame­ri­ka­ni­schen Kon­sulat vorüber in Hitze und Staub auf der Straße nach Erzerum hin­ge­trieben. (Eine solche Szene, viel­leicht sogar exakt diese, zeigt übrigens das obige Bild – d. Red.) Außerhalb der Stadt ließ man sie halten, bis etwa 2.000 bei­sammen waren; dann schickte man sie weiter. Drei solcher Gruppen, zusammen etwa 6.000, wurden während der ersten drei Tage ver­schickt und kleinere Gruppen aus Tra­pezunt und der Umgebung, die später depor­tiert wurden, beliefen sich auf weitere 4.000. Das Weinen und Klagen der Frauen und Kinder war herzzerreißend.“
„Es gab Städte und Dörfer, in denen die arme­nische Bevöl­kerung voll Mitleid ihren, in bejam­mern­swertem Zustand durch­zie­henden Stam­mes­ge­nossen Hilfe und Unter­stützung bot, ohne zu ahnen, daß in Kon­stan­ti­nopel schon Tag und Stunde fest­ge­setzt war, da auch sie an die Reihe kommen und in das gleiche Elend hin­aus­ge­stoßen werden sollten. (…) Mit dieser feigen und gemeinen Bru­ta­lität, die den Mili­ta­rismus – und nicht nur den tür­ki­schen – aus­zeichnet, hat man das arme­nische Volk zuerst wehrlos gemacht und dann massakriert.“
Chris­ten­ver­folgung damals – und heute?
„Der durch die Pro­kla­mierung des ‚Hei­ligen Krieges’ – des Dschihad, d. Red. – ent­fes­selte Reli­gi­ons­fa­na­tismus der Moslem hat in unsern Tagen eine Chris­ten­ver­folgung her­vor­ge­bracht, welche alle ähn­lichen Perioden der Welt­ge­schichte tief in den Schatten stellt. Daß man vor allem das Chris­tentum und die Christen treffen wollte, beweist schon die lange Liste von Namen arme­ni­scher Bischöfe und Metro­po­liten, welche ein­ge­kerkert, gefoltert, aus­ge­wiesen, gehängt, lebendig ver­brannt oder ertränkt wurden, zum Teil ehr­würdige Greise bis zu neunzig Jahren, die auch der größte Lügen-Vir­tuose der deutsch-tür­ki­schen Pro­pa­ganda (…) nicht als einer Ver­schwörung fähig und schuldig erklären würde. Es beweist dies der Hohn der moham­me­da­ni­schen Hen­kers­knechte, welche Jesus läs­terten und ihre röchelnden Opfer fragten, ob ihr Prophet ihnen nun helfen könne. Dafür sprechen auch die Schän­dungen der christ­lichen Kirchen, von denen die Kreuze her­un­ter­ge­rissen wurden, die man plün­derte, ver­un­rei­nigte oder als Markt­hallen und Läden zum Ver­kaufen der Effekten der getö­teten Ver­bannten verwendete.“
„In manchen Städten und Dörfern wurden die christ­lichen Kirchen sofort in Moscheen umge­wandelt (in Erzerum auch die katho­lische Kirche); in Gürün hörte noch während des Auszugs der Depor­tation die dem Tode geweihte Schar, wie die Mollahs von den Dächern der christ­lichen Kirchen zum Gebet der (mus­li­mi­schen – d. Red.) Gläu­bigen riefen. In Erzingian machte man aus der arme­nisch-gre­go­ria­ni­schen Kirche einen öffent­lichen Abort. In Tarmeh, zwi­schen Samsun und Unjeh, wurde nach der Ver­wandlung der Kirche in eine Moschee dem arme­ni­schen Priester zum Spott ein Turban umge­wi­ckelt. Alsdann mußte er den Namas machen (das moham­me­da­nische Gebet) und den muham­me­da­ni­schen Got­tes­dienst halten. Die Frage, ob ein Armenier ‚schuldig’ oder ‚unschuldig’ ist, (…) exis­tiert für das Bewußtsein eines Moham­me­daners nicht, da es sich um Christen handelt.“
Was werden die Jahre ab 2019 bringen?
Gott sei den Christen gnädig!
Ja, es ist wahr: his­to­risch gesehen gehört die heutige Türkei den Türken nur zu einem kleinen Teil – wenn über­haupt. Ein wich­tiger Hinweis in dieser Sache: Nicäa, wo das christ­liche Glau­bens­be­kenntnis for­mu­liert wurde, liegt mitten in Ana­tolien. Nicht nur die Armenier und die Aramäer, nein, das gesamte, neu­tes­ta­men­ta­risch fun­dierte christ­liche Glau­bens­ge­bäude hat seinen Bau­platz in Klein­asien. Hier ist es errichtet worden. Genau dort also, wo heute die Türkei die absolute Macht bean­sprucht und nicht einmal den Bau christ­licher Kirchen zulässt.
Das Armenien, das zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts exis­tierte, ist aus­ge­löscht – das heutige Armenien ist nur noch ein kleiner Teil dieser uralten Kul­tur­nation, und der Völ­kermord von tür­ki­scher Hand hat von Grund auf das ver­ändert, was „Armenien“ genannt wird, auch wenn Tra­dition und Glauben – beide übrigens um Äonen älter als alle tür­kische Tra­dition – natürlich unge­brochen sind. Süleyman der Prächtige, der Eroberer des christ­lichen Kon­stan­ti­nopel, scheint das Vorbild heu­tiger Tage zu sein. Atatürk war nur ein lai­zis­ti­scher Schlenker in der mus­li­misch-osma­nisch-tür­ki­schen Geschichte. Und ein neuer Sultan möchte nun, im 21. Jahr­hundert, das erschaffen, was noch nie exis­tierte: eine ras­sisch-religiös reine Türkei unter dem Banner des Pro­pheten, der die Mis­sio­nierung mit dem Schwert befohlen hat. Ab 2019 wird dieser Sultan über eine quasi tota­litäre Macht­fülle ver­fügen. Gott sei den Christen in ihren uralten, ange­stammten Gebieten in Klein­asien gnädig.
 


Sebastian Sigler für TheEuropean.de